Bislang existiert keine lückenlose und kritische Geschichte der Kommission zur Schaffung des Österreichisch-Bayerischen Wörterbuchs bzw. des Wörterbuchs der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ), etwa in Form einer entsprechenden Monographie. Eine derartige Instituts- und Projektgeschichte – idealiter multidisziplinär ausgelegt und mit einem wissenschaftshistorischen Schwerpunkt – gehört noch in den Bereich der Desiderata.

Gleichzeitig ist zu betonen, dass bereits einige geschichtswissenschaftliche Forschungsarbeiten erschienen sind, die sich mit einzelnen Protagonisten der Kanzlei, des Wörterbuchprojektes und der Universität Wien bzw. der Österreichischen Akademie der Wissenschaften befassen: Einschlägige wissenschaftshistorische Forschung existiert dabei insbesondere vor dem Hintergrund einer kritischen Akademiegeschichte, wie sie Johannes Feichtinger 2022 gemeinsam mit Brigitte Mazohl in einem umfangreichen dreibändigen Werk vorlegte, in welchem mehrmals auf die Wörterbuchkanzlei und ihre Akteure Bezug genommen wird (vgl. Feichtinger/Geiger/Sienell 2022: 81ff.; Feichtinger/Geiger 2022: 210ff.).

Theoretisch (und wissenschaftsethisch) besonders herausfordernd ist jedoch ein Aspekt, der eine kritische Akademie- bzw. Institutsgeschichte transzendiert, nämlich die Tatsache, dass es sich beim WBÖ nicht um ein abgeschlossenes Projekt handelt, welches „lediglich“ zu historisieren wäre, sondern dass an den Wörterbuchartikeln bzw. mit den dafür gesammelten Materialien mit nur kurzen Unterbrechungen und veränderten institutionellen Vorzeichen bzw. Namensgebungen seit über hundert Jahren bis zum heutigen Tag gearbeitet wird – unter primärer Verwendung von sprachlichem Material aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie von Exzerpten, die bis in die althochdeutsche Zeit zurückreichen.

Dies bedeutet aber, dass eine gegenwärtige und zukünftige Verwendung der Wörterbuchmaterialien eigentlich nur dann zielführend und unter Wahrung wissenschaftsethischer Prinzipien sowie wissenschaftshistorischer Reflexion gegeben sein kann, wenn man die Materialien nicht nur linguistisch-lexikographisch, sondern zugleich auch als historische Quelle betrachtet und das WBÖ als in diesem Sinne historisches Wörterbuch behandelt wird.

Zu berücksichtigen ist insbesondere, dass seit der Gründung der Wörterbuchkanzlei 1912/13 mehr als ein Jahrhundert vergangen ist und gerade das 20. Jahrhundert, dieses „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawn 1994), durch massive politische, technologische und gesellschaftliche Umwälzungen gekennzeichnet ist, die sich notwendigerweise auf jedwede Forschung in Theorie und Praxis ausgewirkt haben.

Wesentliche Zäsuren in diesem Zeitraum waren zwei Weltkriege mit Millionen von Toten und breiten Fluchtbewegungen in ganz Europa (immer zu sehen im Zusammenhang mit dem Faschismus und Nationalsozialismus und einer entsprechend aggressiven Bevölkerungs- und Expansionspolitik), die Judenverfolgung und der Holocaust sowie der Aufstieg und Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Daneben hielten die Erfindung des Radios und des Fernsehens sowie die neuen Medien und die moderne Telekommunikation flächendeckend Einzug in das Leben der Menschen des 20. Jahrhunderts.

Insbesondere die völkisch-nationalistische respektive nationalsozialistische Prägung österreichischer und deutscher Germanist:innen und deren ideologisch einschlägige (wissenschafts-)politische Involvierung ist vor diesem Hintergrund besonders erwähnenswert und muss gerade im Kontext des WBÖ näher beleuchtet werden, um eine Geschichte dieses Wörterbuch-Projekts adäquat nachzeichnen zu können.

Weiters zu nennen sind aber auch die mehrfachen politischen Regimewechsel, ja unterschiedlichsten Staatsformen, die das Wörterbuchprojekt miterlebte: Für Österreich bedeutete dies mit Blick auf die verschiedenen Staatsformen des 20. Jahrhunderts den Übergang von der Donaumonarchie zur Ersten Österreichischen Republik, von der Ersten Republik zum Austrofaschismus, vom Austrofaschismus zum Nationalsozialismus, schließlich zehn Jahre Besatzungszeit und mit 1955 die offizielle Gründung der Zweiten Österreichischen Republik. In der jüngeren Vergangenheit folgte schließlich deren Beitritt zur Europäischen Union (1995) und die Integration in den europäischen Binnenmarkt sowie die Umstellung von der Nationalwährung Schilling auf den Euro. All diese historischen Transformationen sind in ihrer Tragweite und Wirkmacht kaum zu überschätzen und aus diesem Grund sollte die Geschichte der Wörterbuchkanzlei in einer entsprechenden Tiefendimension betrachtet werden – auch vor dem institutionellen Hintergrund, der deutlich macht, dass das WBÖ eben nicht nur auf den Standort Wien verweist, sondern dessen Gründung und die mit ihm verbundenen Praktiken der Wörterbucharbeit viele Jahrzehnte in enger Abstimmung mit der Schwesterkanzlei in München, der Bayerischen Wörterbuchkanzlei an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, abliefen. Für ein breiteres Verständnis der dialektologischen Forschungspraxis ist es zudem von Relevanz, sich zu vergegenwärtigen, dass die Akademie der Wissenschaften in Wien seit dem 19. Jahrhundert bis 1940 in das sogenannte Kartell der (deutschen) Akademien und ab dann in den nationalsozialistischen „Reichsverband der deutschen Akademien der Wissenschaften“ eingebettet war (vgl. akademieunion.de), was auch die völkischen Tendenzen in der Wiener Akademie, die enge Anbindung an Deutschland und schließlich die Entwicklungen in der NS-Zeit noch nachvollziehbarer macht (vgl. Feichtinger/Geiger/Sienell 2022: 134).

Gerade im Fall der prominentesten Protagonisten der Wiener Wörterbuchkanzlei, nämlich Walter Steinhauser (1885–1980), Anton Pfalz (1885–1958) und Eberhard Kranzmayer (1897–1975), deren Karrierehöhepunkte aufgrund ihres nationalsozialistischen Engagements eben auch in der Ära des Nationalsozialismus lagen, bedeutet eine lückenlose historische Kontextualisierung daher am Ende immer auch eine deutliche Thematisierung ihrer Involvierung in die nationalsozialistische (Wissenschafts-)Politik (vgl. Braun 2015). Erst die lange Kontinuität völkischer bzw. tribalistischer Sprach- und Raumkonzepte machten einen „Anschluss“ (in mehrfachem Wortsinn) an die verschiedenen Spielarten von NS-Ideologemen möglich. Eine entsprechende Kontextualisierung sollte jedoch nicht in Form einer wissenschaftlichen Delegitimierung der jeweiligen dialektologischen Forschungspraxis und auch nicht in Form einer aktivistischen Verschlagwortung als „nationalsozialistisch“ stattfinden, sondern sich in der notwendigen, sachlichen Untersuchung des Zusammenspiels von Wissenschaft und Politik in ihren unterschiedlichen Aspekten und je spezifischen Zeiträumen ausdrücken, dabei aber zugleich den Aspekt von Wissenschaft und Verantwortung, also wissenschaftsethische Gesichtspunkte,  mitberücksichtigen. Dieser Fokus ist allerdings nicht nur historisch und gesellschaftlich, sondern auch aus innerlinguistischen Gründen von Relevanz: Nämlich, um die Konzeptualisierungen und Visualisierungen von Sprache, Raum (vgl. Digitizing Austrian Maps) und Geschichte (vgl. Zimmermann 2023) in der traditionell-philologischen (völkischen) Dialektologie des Deutschen zu verstehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil hier wissenschaftliche Lehrer-Schüler-Verhältnisse die theoretisch-inhaltliche Ausrichtung der Forschung maßgeblich prägten und wissenschaftliche „Denkkollektive“ (Fleck 1980) konstituierten bzw. stabilisierten (vgl. Wagner 2022 bzw. Maierhofer: Dissertationsprojekt).

In diesem Zusammenhang wird im Projekt Geschichte und Philosophie der linguistischen Forschung zur deutschen Sprache in Österreich ein starker Fokus auf das WBÖ, dessen Datenmaterial und Protagonist:innen gelegt.

 

Literatur

Braun (Zimmermann), Jan David (2015): Das ‚Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten zur Zeit Adolf Hitlers‘ in der ‚Ostmark‘. Geisteswissenschaftliche Gemeinschaftsforschung am Beispiel der Germanistik von 1938 bis 1945. Masterarbeit. Universität Wien.

Feichtinger, Johannes / Geiger, Katharina (2022): „Transformierte Kontinuitäten. Akademieforschung nach 1945 im Schatten des Nationalsozialismus“. In: Johannes Feichtinger und Brigitte Mazohl (Hg.): Die Österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022. Eine neue Akademiegeschichte.Wien. Band II. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. S. 143–160.

Feichtinger, Johannes / Geiger, Katja / Sienell, Stefan (2022): Die Akademie der Wissenschaften in Wien im Nationalsozialismus und im Kontext der Akademien im „Altreich“. In: Johannes Feichtinger und Brigitte Mazohl (Hg.): Die Österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022. Eine neue Akademiegeschichte.Wien. Band II. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. S. 11–141.

Fleck, Ludwig (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hobsbawm, Eric (1994): Age of extremes. The short twentieth century 1914–1991. London: Joseph.

Wagner, Klemens (2022): Dialektologisches Wissen im biographischen Kontext. Eine wissenschaftshistorisch akzentuierte Analyse des „Dialektatlas Österreichs und seiner Nachbarländer“ von Eberhard Kranzmayer. Masterarbeit. Universität Wien.

Zimmermann, Jan David (2023): „Die Sprache(n) auf der Karte: Die Konstruktion von Geschichtlichkeit in der Dialektkartografie des Deutschen zwischen Cisleithanien, Erster Republik und Zweiter Republik“. In: Johannes Feichtinger, Heidemarie Uhl (Hg.): Das integrative Empire. Wissensproduktion und kulturelle Praktiken in Habsburg Zentraleuropa, transcript Verlag, Bielefeld, S. 189–210.

 


Manfred Glauninger – Jan David Zimmermann – Andreas Gellan