Initiierung der Sammeltätigkeiten der „Kommission für die Herausgabe eines Wörterbuches der bayrisch-österreichischen Mundart“
Initiierung der Sammeltätigkeiten der „Kommission für die Herausgabe eines Wörterbuches der bayrisch-österreichischen Mundart“
Das Datenmaterial, das für die Erstellung eines Wörterbuchs der bairischen Mundarten im damaligen Österreich, Bayern und deren Nachbarländer seit dem frühen 20. Jahrhundert gesammelt wurde, blickt auf eine langjährige und wechselvolle Geschichte zurück. Der Sammeltätigkeit ging die Idee voraus, das Bayerische Wörterbuch von Johann Andreas Schmeller an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu überarbeiten. Das Bayerische Wörterbuch von Andreas Schmeller galt in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts als Meilenstein einer wissenschaftlich fundierten Dialektlexikographie, die die damals gebräuchlichen Mundarten mit der Sprache der Vergangenheit diachron in Verbindung setzte.
Eine Überarbeitung dieses Werks befanden einige Gelehrte in München jedoch für nicht zielführend, da die Erhebungen Schmellers aus dem 19. Jahrhundert bereits eine längere Zeit zurücklagen, und forderten deshalb die Etablierung eines Wörterbuchprojekts, das den gesamtbairischen Dialektraum abdecken sollte. Das Schmeller’sche Wörterbuch hatte lediglich das Bairische im Königreich Bayern sowie in einigen Gebieten Salzburgs behandelt, während der restliche bairische Wortschatz noch nicht systematisch und flächendeckend aufgezeichnet worden war. Demnach sollten die fränkischen und schwäbischen Dialekte innerhalb der Grenzen Bayerns nicht berücksichtigt werden, dafür aber auch die bairischen Dialekte des damaligen Österreich, was nur durch eine Kooperation mit der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien geschehen konnte. Ende des 19. Jahrhunderts begannen auch andere großlandschaftliche Wörterbücher im deutschsprachigen Raum ihre Publikationstätigkeit wie das Schweizerische Idiotikon 1881 oder das Schwäbische Wörterbuch, das ab 1904 herausgegeben wurde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde bereits vorgeschlagen, die Dialekte des gesamtdeutschen Raums in einem Werk zusammenzufassen bzw. dass die jeweiligen Dialekt-Großregionen dokumentiert werden sollen (vgl. Friebertshäuser 1986: 10).
Österreich stand bereits in einer Tradition von Forscher:innen, die im Bereich der Phonetik, Grammatik, Lexik, der Sprachgeschichte und des Sprachkontakts tätig waren, wie etwa der Theologe und Lehrer am Schottengymnasium Hugo Mareta (1827–1913), der ein Wörterbuch der Österreichischen Volkssprache 1861 bzw. 1865) erarbeitete und sich für die Wiedereinführung des Unterrichts im Mittelhochdeutschen einsetzte (vgl. Hübl 1907: 163f.), Johann Willibald Nagl (1856–1918) mit seiner Dissertation zur Conjugation des schwachen und starken Verbums im niederösterreichischen Dialekt (1883), Josef Schatz (1871–1950) mit seiner Altbairischen Grammatik (1907) oder Primus Lessiak (1878–1937) mit seiner Dissertation über Die Laut- und Flexionslehre der Mundart von Pernegg (1903) und seinem Vorhaben, einen bairischen-österreichischen Dialektatlas zu schaffen (vgl. Hornung 1976: 37).
Der Indogermanist Ernst Kuhn (1846–1920) von der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München wandte sich am 20. September 1910 mit einem Brief an den Germanisten Joseph Seemüller (1855–1920) von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Darin formulierte er den Vorschlag, ein gemeinsames bayerisch-österreichisches Dialektwörterbuch zu initiieren. Denn im Gegensatz zu München gab es an der Akademie in Wien bereits eine etablierte und prestigeträchtige dialektologische Schule, die sich der Forschung sowohl im binnenbairischen Raum als auch in den bairischen „Sprachinseln“ widmete. Der Vorschlag stieß bei der Wiener Akademie auf Interesse. Und so wurde umgehend mit der Planung des Projekts begonnen. Der bereits am 15. März 1911 gegründeten Fachkommission stand Josef Seemüller als deren Obmann vor, Paul Kretschmer (1866–1956) wurde dessen Stellvertreter. Zum unmittelbaren Leiter der Geschäfte wurde Josef Seemüller gewählt und Rudolf Much (1862–1936) zu dessen Stellvertreter ernannt.
Um Fördergelder einzuwerben, wurden im selben Jahr Unterstützungsgesuche an die Stadt Wien und die Landtage von Nieder- und Oberösterreich, Kärnten, Tirol, Salzburg und der Steiermark eigereicht. Diese Bitte um Subventionen begleitete ein „Geleitwort zu einem Sprachschatz der österreichisch-bayrischen Mundart“. Darin wurde die Bedeutung des Wörterbuchprojekts wie folgt hervorgehoben:
Zu seiner wissenschaftlichen Bedeutung gesellen sich heimatliche und nationale Triebkräfte. Es gilt ein Werk, das wertvolle, viel zu wenig gewürdigte Schätze stammheitlicher Besonderheiten der Verborgenheit und Vergessenheit entrückt, kräftigend auf das Stammesbewusstsein zurückwirkt, überall den Zusammenhang des Stammes mit der Nation aufweist und ihr damit dient (Seemüller/Much (1911): Geleitwort zu einem Sprachschatz der österreichisch-bayrischen Mundart).
Welche Nation damit gemeint war, blieb dabei unklar bzw. unausgesprochen. „Österreich“ im Sinne des damaligen Kaiserreichs konnte nicht widerspruchsfrei gemeint sein, da nicht für alle Teile Cisleithaniens ein Zusammenhang mit dem „Stamm“ der Baiern postuliert werden konnte (vgl. Zimmermann 2023: 198f.). Explizit deutschnational war das Unternehmen aber wohl auch nicht zu legitimieren. Aus dialektologisch-lexikographischer Perspektive ergab der Fokus auf das Bairische natürlich Sinn, er verwies aber zugleich auf die Konfliktzonen des dem Wörterbuch-Unternehmen zugrunde gelegten völkisch-tribalistischen Dialektkonzepts innerhalb der mehrsprachigen Realität der Monarchie (vgl. Zimmermann 2023: 198), wodurch vielleicht auch zu erklären ist, warum das Bittschreiben nur an Wien und jene österreichischen (Bundes-)Länder erging, die im bairischen Sprachraum liegen und in denen Deutschsprachige die Mehrheitsgesellschaft stellten.
Am 28. und 29. September 1911 wurde von den Münchner Kommissionsmitgliedern Ernst Kuhn und Wilhelm Streitberg (1864–1925) und den Wienern Josef Seemüller und Ernst Much in Salzburg ein Grundkonzept erarbeitet, um eine Vereinheitlichung bei den weiteren Tätigkeiten zu erzielen. In den Jahren 1912 bzw. 1913 wurden die Wörterbuchkanzleien in Wien und München gegründet, die zu Beginn als Schwesterkanzleien gedacht waren. Das neue Wörterbuch sollte als Bayerisch-Österreichisches Wörterbuch erscheinen. Als Gründungstag der Wiener Kanzlei gilt gemeinhin der 12. Februar 1913, als drei Zimmer im 1. Stockwerk des ehemaligen k. k. Bezirksgerichtes Wieden (1040 Wien, Favoritenstraße 5) bezogen wurden.
Die wichtigsten Mitarbeiter waren zu dieser Zeit Anton Pfalz (1885–1958), Walter Steinhauser (1885–1980) und Primus Lessiak. Diese drei Personen spielten bereits vor der Kanzleigründung eine wesentliche Rolle und sollten die Fragebogenerstellung und die übrige Sammeltätigkeit prägen. Josef Schatz war ebenfalls eine Stelle als Artikelverfasser angeboten worden, die er jedoch ausschlug und nur als freier Mitarbeiter mit dem Projekt in Verbindung stand, Dietrich Kralik (1884–1959) übernahm vorerst die Rolle des zweiten Artikelverfassers. Die Stelle als Assistent neben Anton Pfalz hätte mit Hans Tschinkel (1872–1926) besetzt werden sollen, ein Vorhaben, das man jedoch „aus äußeren Gründen […] nicht verwirklichen“ (Seemüller 1913: 47) konnte. An seine Stelle trat im Herbst 1912 Walter Steinhauser, dessen Vater Robert Steinhauser (1852–1920), Jurist, Schriftsteller, Funktionär und Großgrundbesitzer, dem Wörterbuchprojekt ab 1913 eine jährliche Unterstützung von 1000 Kronen für die nächsten fünf Jahre zugesichert hatte (vgl. Seemüller 1913: 51). Die 1911 zusammengetretene Fachkommission zur Erstellung des Bayerisch-Österreichischen Wörterbuchs schöpfte bei der Konzeption der Unternehmung aus den Erfahrungen, die andere etablierte großlandschaftliche Wörterbücherprojekte wie das Schweizerische Idiotikon und das Glossaire des patois de la Suisse romande seit dem letzten Jahrhundert bereits gesammelt hatten (vgl. König 2004: 1804). Zu diesem Zweck reisten die zukünftigen Wörterbuch-Assistenten Anton Pfalz und Walter Steinhauser nach Zürich, um bei Albert Bachmann vom Schweizerischen Idiotikon und Louis Gauchat vom Glossaire des patois de la Suisse romande einen Eindruck über die dortige Arbeit zu gewinnen. Letzteres Wörterbuch hatten bereits zwischen 1900 und 1910 eine indirekte Befragung von ca. 150 Patois-Sprecher:innen über den Korrespondenzweg abgewickelt. Dabei wurden 227 Fragebögen an Priester:innen, Lehrer:innen und Bauern bzw. Bäuerrinnen verschickt (weibliche Gewährspersonen waren nur vereinzelt darunter), die jeweils Antworten zu bestimmten Themengebieten mit detaillierten Unterkategorien (der menschliche Körper, Charakterzüge, Krankheiten, Landwirtschaft usw.) auf farblich codierten Handzetteln gaben. Diese hatten je nach Schweizer Kanton eine andere farbliche Codierung, um gleich deren regionale Zuordnung treffen zu können und waren vorab mit einem Stempel des Herkunftsortes versehen. Sie bilden den Großteil der Datensammlung des Glossaire (vgl. Corpus et iconographie du Glossaire sowie Les fiches des correspondants). Auf diese Weise konnte Sprachmaterial aus 242 Erhebungsorten gesammelt werden. Den Handzetteln wurde ein eigenes Transkriptionssystem beigelegt, das eine Verschriftung der entsprechenden Laute ermöglichen sollte, insbesondere jener, für die es im Standard-Französischen keine Entsprechung gab (vgl. Gauchat 1914: 13ff.). Diese von Louis Gauchat, Jules Jeanjaquet und Ernst Tappolet entwickelte Methode wurde von der Wiener Wörterbuchkanzlei übernommen, auf die Verhältnisse des Bairischen angepasst und stark ausgebaut (vgl. Pfalz 1918: 21). Darüber hinaus stand das bayerisch-österreichische Wörterbuchprojekt aber noch mit den Bearbeitern einer Reihe von anderen Wörterbüchern in Kontakt, um Anhaltspunkte für die Richtlinien und die Ausarbeitung der Fragebögen zu erhalten, zu nennen sind etwa das Pfälzische Wörterbuch, das Wörterbuch der luxemburgischen Mundart, das Rheinische Wörterbuch, das im selben Jahr gegründete Hessen-nassauische Wörterbuch und das Siebenbürgisch-sächsische Wörterbuch. Die Übernahme dieses umfangreichen Vorwissens erklärt vermutlich auch, dass der erste Fragebogen bereits am 7. März 1913 ausgeschickt werden konnte.
Im Anschluss an das Treffen mit dem Glossaire des patois de la Suisse romande verbrachten Pfalz und Steinhauser drei Wochen in Fribourg bei Primus Lessiak, der seit 1906 eine Professur für Germanische Philologie an der dortigen Universität innehatte und die weitere Entstehung der Fragebögen entscheidend prägen sollte. In Fribourg brachte Lessiak Pfalz und Steinhauser praxisorientierte Fragen der Mundartforschung näher (vgl. Seemüller 1913: 44). Lessiak war ebenfalls Österreicher und er war im gemischtsprachigen Gebiet Kärntens aufgewachsen. Er hatte sich in seiner Wiener Promotionsarbeit (1903) bereits mit den Laut- und Flexionsformen der Mundart von Pernegg in Kärnten beschäftigt und einen Dialektatlas der österreichischen Alpenländer geplant. Im Rahmen seiner Habilitationsschrift Beiträge zur Dialektgeographie der österreichischen Alpenländer (1906) untersuchte er die Mundarten des oberen Drautals, des Lieser- und Maltatals sowie des Iselstals und dessen Seitentäler und wendete dabei dialektgeographische Methoden an. Eine Fortsetzung dieses Projekts folgte 1909 im Gail- und Lesachtal. Der darauf aufbauende Dialektatlas Österreichs und seiner Nachbarländer (DAÖ) sollte noch weit über Lessiaks Tod hinaus Teil der Geschichte der bayerisch-österreichischen Wörterbuchkanzlei sein (vgl. Wagner / Zimmermann 2021).
Arbeit der Wörterbuchkanzleien bis zum 1. Weltkrieg
Arbeit der Wörterbuchkanzleien bis zum 1. Weltkrieg
Die Münchner Kanzlei war für die Sammlung innerhalb Bayerns zuständig, die Wiener Kanzlei für den geschlossenen bairischen Sprachraum in der österreich-ungarischen Doppelmonarchie, nämlich im heutigen Österreich, Südtirol, in Tschechien, in der Slowakei, in Ungarn und Slowenien, sowie für alle „Sprachinseln“ außerhalb des geschlossenen bairischen Sprachraums (das sogenannte „Streu- und Inseldeutschtum“). Beide Kanzleien sollten zwar mit gemeinsamen Fragebögen arbeiten, die Sammlungen jedoch getrennt voneinander durchführen. Danach wäre es vorgesehen gewesen, das Material nach Wien zu überführen, wo die lexikographische Arbeit hätte stattfinden sollen.
Für die Erhebungen bereiteten die beiden Kanzleien Fragebögen und Fragebücher vor, deren Hauptaugenmerk auf dem Dialektwortschatz lag, die aber auch auf volkskundliche Besonderheiten abzielten. Mithilfe von Inseraten und Aufrufen wurden Sammlerinnen und Sammler aus dem ganzen bairischen Sprachraum gewonnen, die sich ab dem Jahr 1913 an die Arbeit machten und das erhobene Material an die Kanzleien der Akademien sendeten (vgl. Seemüller 1912: 188f.). Lessiak und Pfalz waren bereits seit dem Frühjahr 1912 mit dem Entwurf und der Ausarbeitung der Fragebögen beschäftigt gewesen, Steinhauser war im Herbst desselben Jahres hinzugestoßen, wobei sie bei ihrer Arbeit Unterstützung aus den unterschiedlichen Fachbereichen erhalten hatten. Der letzte der sogenannten „großen Fragebögen“ wurde 1933 ausgesandt, 1937 endeten die Nacherhebungen mittels der Ergänzungsfragebögen (vgl. dazu die Materialsammlung).
Zusätzlich zu den Sammlungen wurden Dissertationen und Monographien, bereits bestehende kleinräumige Dialektwörterbücher, historische Materialien und ähnliche Quellen auf Handzetteln exzerpiert und in einen großen Handzettelkatalog (vgl. Handzetteldigitalisierung) eingegliedert. Auch (Sprach-)Material aus direkten Erhebungen (sogenannten Kundfahrten), diversen wissenschaftlichen Sammlungen und persönlichen Mitteilungen wurde in den Fundus aufgenommen. Dies führte zu einem rasanten Wachstum des Zettelkatalogs, der heute ein unikales Korpus an historischem, dialektologischem, und volkskundlichem Material darstellt.
In diesen Zeitraum fiel auch eine Fülle an Feldforschungsreisen, die Lessiak mit seinen Assistenten durchführte, wie etwa eine Expedition für dialektologische Studien, die Lessiak und Pfalz im September 1912 in das Gebiet der sieben Gemeinden in Oberitalien führte. Die gewonnenen Daten waren in erster Linie für eine geplante Dialektgeographie gedacht und stellten eine Vorarbeit für das Wörterbuch dar. Finanziert wurden diese Forschungsvorhaben von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, vom Phonogrammarchiv und dem Alpenverein (vgl. Seemüller 1913: 43f.).
Eine weitere Forschungsreise führte Lessiak und Pfalz im August 1913 nach Sorica (Zarz) in Slowenien, wo die deutsch-slowenische Bevölkerung anhand eines slowenischen Wörterbuchs abgefragt wurde, da die deutsche Standardsprache und die Kärntner Mundart dort nicht verstanden wurden. Lessiaks Begleiter Pfalz nahm mit einem Aufnahmegerät des Phonogrammarchivs zwölf Phonogramme in Sorica (Zarz) und Umgebung auf. Darüber hinaus reisten sie, gemeinsam mit Walter Steinhauser, für weitere Feldforschungen in die Steiermark und nach Salzburg und griffen auf Daten von Josef Schatz zurück, die dieser an der Westgrenze des Bairischen zwischen Lech und Ammer erhoben hatte und an der steirisch-ungarischen Grenze von der Raab bis Friedberg erheben hatte lassen (vgl. Seemüller 1914: 28ff.).
Beginn des Ersten Weltkriegs bis Ende des Zweiten Weltkriegs
Beginn des Ersten Weltkriegs bis Ende des Zweiten Weltkriegs
Der Erste Weltkrieg stellte einen Einschnitt sowohl für die beiden Wörterbuchkanzleien als auch die Sammeltätigkeit dar, schließlich wurden alle der jüngeren Mitarbeiter der Wörterbuchkanzlei zum Kriegsdienst eingezogen (vgl. König 2003: 1003 bzw. 1804). Trotz finanzieller Probleme konnte aber nach dem Weltkrieg die Arbeit wieder aufgenommen werden. Eberhard Kranzmayer (1897–1975) begann in den 1920er-Jahren seine Arbeit beim Wörterbuchprojekt, zuerst noch in Wien, später dann auch in der Münchner Kanzlei. Seine erste Erwähnung in den Akademieberichten findet man im Zusammenhang mit der Befragung von Kriegsgefangenen aus Pladen und den Sieben Gemeinden, die im Gefangenenlager Mauthausen interniert waren. Bei dieser – aus heutiger Sicht forschungsethisch bedenklichen – Befragung war neben Pfalz auch der damalige Student Kranzmayer beteiligt. Dieser hatte auch bereits Sprachdaten eines zimbrischen Soldaten gesammelt, der sich in einem Krankenhaus in Klagenfurt befunden hatte (vgl. Seemüller 1919: 17).
Das im ursprünglichen Arbeitsplan des Wörterbuchs festgehaltene Projekt einer Dialektgeographie des Bairischen wurde ab 1924 bzw. 1926 sukzessive von Eberhard Kranzmayer in Angriff genommen und in Form einer zum WBÖ komplementären Lautgeographie (erschienen erst 1956) bzw. seines unvollendeten Kartenwerks DAÖ (Dialektatlas Österreichs und seiner Nachbarländer) realisiert (vgl. Wagner 2022: 5f. bzw. DIAUMA).
Mit den 1930er-Jahren verschärfte sich zunehmend der politische Ton der Dialektologen in Wissenschaft und öffentlicher Aussage und verdeutlichte einmal mehr deren völkische Ideologie (Zimmermann (Braun) 2015: passim). Daher nimmt es auch nicht wunder, dass Anton Pfalz, seit 1937 illegaler Nationalsozialist und „Gottgläubiger“ (vgl. König 2003: 1396 bzw. Conze et al. 2010: 157), den „Anschluss“ Österreichs an das NS-Deutschland affirmierte (Zimmermann (Braun): 2015: 33ff.). Auch Kranzmayer, der sich Ende 1937 in München aufhielt, stand der Machtergreifung des Nationalsozialismus wohl keinesfalls ablehnend gegenüber, ging sie doch für ihn mit einem deutlichen Karriereschub einher. Selbst wenn er erst 1940 NSDAP-Mitglied wurde, so war er doch bereits 1937 Dozent an der Münchener Universität und leitete ab 1940 auch die Münchener Wörterbuchkanzlei (vgl. König 2003: 1006). Ab dem Jahr 1942 übernahm Eberhard Kranzmayer schließlich in Klagenfurt die Leitung des „Instituts für Kärntner Landesforschung“, einer Einrichtung des SS-Ahnenerbes unter der Schirmherrschaft von Heinrich Himmler. Dort arbeitete man im Kontext des NS-Eroberungskrieges der aggressiven Bevölkerungs- und Raumpolitik der Nationalsozialisten zu, die zur Umsiedlung und Deportation von tausenden Sloweninnen und Slowenen führte (vgl. Wedekind 2017: 1433ff.; Wedekind 2019: passim).
Während an einigen Instituten der Akademie der Wissenschaften in Wien mit dem „Anschluss“ Wissenschaftler aufgrund ihrer jüdischen Herkunft oder wegen ihrer politischen Einstellungen entlassen wurden, gab es an der Wiener Wörterbuchkanzlei unter der Leitung von Anton Pfalz keine Entlassungen (vgl. Suppan 2013: 15). Dies wohl deshalb, weil alle Mitarbeiter weitgehend (mit entsprechenden Nuancierungen) linientreu nationalsozialistisch bzw. konformistisch eingestellt waren. Anton Pfalz, der schon in den frühen 1920er-Jahren im antisemitischen akademischen Netzwerk „Bärenhöhle“ daran mitwirkte, jüdische Habilitationen und Berufungen an der Universität Wien zu verhindern (vgl. Taschwer 2016: 221ff.), wirkte ab 1938 an der „Säuberung der Fakultät“ mit, wie er selbst in einer Korrespondenz erwähnte (FE-Akten: Pfalz 1938). Die sogenannte Bärenhöhle lässt auch tief in die (universitäts-)politischen Verflechtungen jener Zeit blicken. Bis auf deren Gründer, den Paläontologen und Evolutionsbiologen Othenio Abel (1875–1946), setze sich das Netzwerk fast ausschließlich aus Geisteswissenschaftlern zusammen. Darunter waren neben Anton Pfalz auch Rudolf Much, Richard Meister (1881–1964) und Dieter Kralik. Elf der 19 Mitglieder waren auch Mitglied im Deutschen Klub, einem deutschnationalen Verein, dessen Mitglieder hohe politische, wissenschaftliche und kulturelle Positionen innehatten. In der Deutschen Gemeinschaft (DG), einer antisozialistischen und antisemitischen Gemeinschaft, waren ebenfalls 5 Bärenhöhlen-Mitglieder vertreten, wie etwa Anton Pfalz und Rudolf Much (vgl. Taschwer/Huber/Erker 2020: 111ff.). Sichtbar wird durch diese Verflechtungen vor allem der Ausschluss Andersdenkender, und dies gibt auch Einblick in eine gleichgeschaltete Geisteshaltung innerhalb einer homogenen Geisteswissenschaft jener Zeit, die ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse für eine gesellschaftspolitische Beeinflussung missbrauchte bzw. dafür missbraucht wurde.
Der Zweite Weltkrieg wirkte sich recht bald auch auf die Arbeiten an der Wiener Kanzlei aus: Schon mit Ende September 1939 hatte Anton Pfalz nur mehr einen einzigen Mitarbeiter in der Kanzlei, „alle anderen sind Soldaten“, schrieb er in einem Brief vom 23.09.1939 (FE-Akten: Pfalz 1939). Die Arbeiten am Wörterbuch wurden bald gänzlich eingestellt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es einige Zeit, bis manche der Mitarbeiter aus Krieg und Gefangenschaft zurückkehrten und ihre Arbeit wieder aufnahmen, einige junge Kollegen waren im Krieg gefallen. Die Münchner Kanzlei stand personell vor einem gänzlichen Neubeginn. Beide Kanzleien konnten jedoch in der Folgezeit ihre Arbeit erfolgreich fortsetzen und Kranzmayer wurde nach einer „glimpflichen Entnazifizierung“ 1947 (vgl. Pfefferle / Pfefferle 2014) bereits ab 1949 wieder an der Wiener Kanzlei eingesetzt, wechselte also von München nach Wien und konnte in den 1960er-Jahren an der Universität Wien auch wieder eine Professur erlangen. Pfalz wurde 1947 als „Minderbelasteter“ eingestuft und 1949 pensioniert.
Nachkriegszeit und Trennung der Wörterbuchkanzleien
Nachkriegszeit und Trennung der Wörterbuchkanzleien
Die 1950er-Jahren waren geprägt von den Bemühungen, die Verbindung zwischen Wien und München wieder zu stärken. Die Münchner Kanzlei war nun nicht mehr bereit, die Materialien an die Schwesterkanzlei in Wien zu übergeben. Geplant war, dass die beiden Arbeitsstellen Artikelentwürfe für ihre Regionen verfassen, die wechselweise in Wien und München zu gemeinsamen Artikeln zusammengefasst werden sollten. Da die Kanzlei in Wien schon mit dem Verfassen der Artikel begonnen hatte, wurde 1963 die erste Lieferung des Wörterbuchs der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ) unter der Leitung von Viktor Dollmayr (1878–1964) und Eberhard Kranzmayer veröffentlicht (vgl. Reiffenstein 2005: 3). Dies mag zum Teil auch mit dem Selbstverständnis der nunmehr „Österreichischen Akademie der Wissenschaften“ zusammenhängen, zu der sich im Kontext des nation building der Zweiten Republik die Wiener Akademie transformierte. Jedenfalls hatte es zur Folge, dass das Wörterbuch hinsichtlich der Publikation in zwei Reihen getrennt wurde, diese jedoch offiziell unter dem gemeinsamen, übergeordneten Titel Bayerisch-Österreichisches Wörterbuch veröffentlicht wurden.
Publikationsgeschichte bis 2015
Publikationsgeschichte bis 2015
Nachdem Viktor Dollmayr 1964 verstorben war, übernahm Eberhard Kranzmayer bis 1975 die alleinige Funktion des Herausgebers des WBÖ. Maria Hornung (1920–2010), die ab den 1940er-Jahren an der Wiener Wörterbuchkanzlei als Mitarbeiterin tätig gewesen war, hatte schließlich von 1969 bis 1980 die Redaktion inne. Ihr folgte Werner Bauer (1939–2016) als Redaktor. Von 1975 bis 1999 leitete Ingo Reiffenstein (1928–2023) die Kommission. Während seiner Obmannschaft wurden diverse Straffungskonzepte für die Publikation erarbeitet, die sowohl den Bearbeitungszeitraum als auch die Materialauswahl betrafen. 1994 wurde die Wörterbuchkommission gemeinsam mit dem Projekt Altdeutsches Namenbuch (ANB) zum Institut für Österreichische Dialekt- und Namenlexika (DINAMLEX) umgewandelt. Ab 2013 war das DINAMLEX – und somit das WBÖ – Teil des Instituts für Corpuslinguistik und Texttechnologie (ICLTT). Von 1999 an stand Peter Wiesinger (1938–2023) dem WBÖ wissenschaftlich beratend und leitend zur Seite. Von 2001 bis 2015 war Ingeborg Geyer für die Redaktion zuständig.
Seit der ersten Veröffentlichung wurden bis 2015 fünf Bände in insgesamt 41 Lieferungen publiziert, womit die gesamte Strecke von A bis E abgedeckt wird.
Neuaufnahme des WBÖ-Langzeitprojekts im Jahr 2016
Neuaufnahme des WBÖ-Langzeitprojekts im Jahr 2016
Nachdem das Wörterbuch 2015 vorläufig eingestellt worden war, wurde es 2016 am damaligen Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH) im Kontext der neu gegründeten ÖAW-Forschungsabteilung Variation und Wandel des Deutschen in Österreich (VaWaDiÖ), die mit dem 1. Juni 2021 in Forschungsabteilung Sprachwissenschaft umbenannt wurde, konzeptionell und personell neu aufgestellt. Als Projektleiterin wurde Alexandra N. Lenz, Professorin der Universität Wien, gewonnen. Im Kontext des ACDH-CH wurde das WBÖ-Langzeitprojekt von einem klassischen Wörterbuchprojekt mit Fokus auf dem Verfassen von (ursprünglich rein auf Printformat ausgerichteten) Wörterbuchartikeln umgewandelt in einen an die digitale Forschungslandschaft des 21. Jahrhunderts angepassten Projektcluster, der sich in die Aufgabenbereiche Korpus & Infrastruktur, Lexikographie, Forschung, Wissenschaftsvermittlung und Wissenschaftsgeschichte gliedert und diese optimal miteinander vernetzt. Im Kontext des lexikographischen Aufgabenbereichs werden weiterhin Wörterbuchartikel verfasst und über Lexikalische Informationssystem Österreich (LIÖ) online publiziert. Mittlerweile (Stand: September 2024) sind – inkl. eines Teils der Retrodigitalisate der bereits publizierten Artikel – über 4.600 WBÖ-Artikel online zugänglich.
Literaturverzeichnis
Literaturverzeichnis
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FE-Akten, Wörterbuch-Kommission, Karton 4, Brief von Anton Pfalz an Eberhart Kranzmayer vom 24.03.1938.
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