Positivismus als Welterzeugung

Universalwissenschaft und Weltgesellschaft im imperialen Zeitalter

Der Positivismus war ein weltumspannendes Projekt des 19. und 20. Jahrhunderts, dessen globale Prägekraft, politische Bedeutung und historische Tragweite mein Projekt erstmals aufzeigt. Der von Auguste Comte (1798–1857) begründete Positivismus wollte die Weltkrise bewältigen, die mit der Französischen Revolution von 1789 ausgebrochen war. Aus der Revolution leiteten die Positivisten drei Schlüsse ab: Die bisherigen metaphysischen Wissenschaften führten in eine Sackgasse, der europäische Imperialismus war ein Irrweg und das Auftreten der Gesellschaft als geschichtsmächtiger Akteur bedurfte neuer Formen der Analyse und der sozialen Praxis. So gipfelte der Positivismus in einer kritischen Selbstaufklärung des Westens und der Wissenschaft, die ihre Erkenntnisansprüche hinterfragte. In der positivistischen „Religion der Menschheit“, deren Tempel u.a. in Kalkutta und Rio de Janeiro standen, wurden die Feste und Kulte der französischen Jakobiner zu einer säkularen, interkulturellen Eschatologie umgestaltet.  

Auguste Comte galt lange als eigenbrötlerischer Stubengelehrter, der in Paris vom Positivismus unter Palmen träumte, aber als verkannter König ohne Land starb. Meine Studie zeigt, dass Comtes Werk japanische Meiji-Reformer und brasilianische Romanciers, britische Empire-Kritiker und ägyptische Ingenieure in seinen Bann zog, deren kreative lokale Verarbeitungen von Comtes Programm in verschiedenen Weltgegenden sie nachzeichnet. Die Positivsten begründeten auf einzigartige Weise die Menschheit als Kollektivsubjekt, was einen doppelten Effekt zeitigte: Die Menschheit trat an die Stelle der Zivilisierungsmission des Westens und an die Stelle der „Natur“, die zuvor als Quelle der Gesetze gegolten hatte, welche die Wissenschaften ergründeten. Dadurch wurde der Positivismus zu einem kardinalen Reflexionsmedium der Moderne

 

Foto: © Wandkalender der brasilianischen Positivisten (1893? Amaro de Silveira, Rio de Janeiro © Aurelia Giusti)


Projektleiter:  Franz L. Fillafer
Finanzierung: ÖAW