06.10.2023

SOUNDS & SIGHTS OF SCIENCE #22

Gewalt im O-Ton: Aus dem Leben von Omar Mohámmed bĕn Saïd (1928) – vorgestellt von Clemens Gütl

WAS IST ZU HÖREN?

In den Beständen des Phonogrammarchivs befinden sich auch Tondokumente von Menschen aus anderen Weltteilen, die nicht in ihren Herkunftsländern aufgenommen wurden.

Die folgenden, kommentierten Ausschnitte aus einer Sprachaufnahme entstanden 1928 im Phonogrammarchiv. Initiiert hatte sie Max Karl Feichtner für seine sprachwissenschaftliche Doktorarbeit über eine Berbersprache, die er 1930 an der Universität Wien einreichte.

Die Tonaufnahme Ph 3232 enthält Fragmente der Lebensgeschichte von Omar Mohámmed bĕn Saïd. Der 25-jährige Mann stammte aus Marokko, das ab 1912 von den Kolonialmächten Frankreich und Spanien besetzt war:
 

WAS IST DARAN BESONDERS INTERESSANT?

Aus den erhaltenen Tonspuren können fast 100 Jahre nach ihrer Aufzeichnung auf Wachsplatten noch Referenzen auf Gewalterfahrungen und Diskriminierung hör- und verstehbar gemacht werden. Der junge Mann berichtet offenkundig erregt über seine Desertion aus der französischen Kolonialarmee, die Flucht nach Deutschland und den Grund für seinen damaligen Aufenthalt in Wien.

Es ist äußerst wahrscheinlich, dass er in zeitlicher Nähe zu den Tonaufnahmen in einem „arabischen Dorf“ beim Zirkus Zentral am Praterstern beschäftigt war – und zwar abwechselnd als „Feuerfresser, Schwerttänzer, Flötenspieler, Verkäufer von allerhand Krims-Krams etz.”, so Feichtner in seiner Dissertation (1930: S. 169). Einem anderen Zitat zufolge wollte der Marokkaner „nicht den Hörern vorgeführt” (ebd.) werden, die am Institut für Ägyptologie und Afrikanistik eine Lehrveranstaltung des Vorstands Wilhelm Czermak besuchten.

Die Tondokumente der Serie mit den Signaturen Ph 3230 bis Ph 3238 können daher auch im Kontext einer langen Geschichte von rassistischen „Völkerschauen“ interpretiert werden.
 

WIE BESCHÄFTIGE ICH MICH DAMIT?

Was mein wissenschaftliches Interesse an den Afrika-Sammlungen des Phonogrammarchivs betrifft, liegen diese nicht zuletzt bei den eher unbekannten „Phonographierten“, also den aufgenommenen Menschen, und bei jener heterogenen Personengruppe, für die sich in der Fachliteratur die Bezeichnung intermediaries etabliert hat. Solche Rollen übernahmen etwa einheimische Orts-, Sprach- und Sachkundige, wie Träger:innen, Übersetzer:innen oder lokale politische Autoritäten.

Im gegenständlichen Tonbeispiel war der „Phonographierte“ ein ehemaliger Kolonialsoldat, der sich dem Schießbefehl auf seine eigenen Landsleute widersetzt hatte, die sich während des Zweiten Marokkanischen Kriegs (1921–1926) erbittert und schließlich doch erfolglos gegen die fremden Besatzungsmächte Frankreich und Spanien zur Wehr gesetzt hatten. Noch heute leiden Menschen an den Spätfolgen des Abwurfes von illegal hergestellten Senfgasbomben auf die Rif-Berber im nördlichen Marokko.
 

 


Clemens Gütl ist Afrikawissenschaftler und als Kurator für den Sammlungsschwerpunkt Afrika des Phonogrammarchivs verantwortlich. Er forscht vorrangig wissenschaftshistorisch zu Beständen des Phonogrammarchivs, zur Geschichte der Afrikanistik und Ägyptologie in Österreich und zur Kolonial- und Missionsgeschichte Afrikas. 

 

Quellen und Literatur

Gütl, Clemens. 2020. A new approach to old sound recordings from Morocco. In: Mladen Tomorad (ed.), Egypt and Austria XII. Egypt and the Orient: The Current Research (= Proceedings of the Conference held at the Faculty of Croatian Studies, University of Zagreb, Croatia, September 17th to 22nd, 2018). Oxford, Zagreb: Archaeopress, S. 413–418.

Online-Katalog des Phonogrammarchivs der ÖAW: Metadaten zu den Tonaufnahmen mit den Signaturen Ph 3230–3238.

Circus Archiv - Christoph Enzinger, Krems.