17.06.2024 | Kulturforschung

Zwischen Popkult und Propaganda:­ die Geschichte in Videospielen

Zahllose Computerspiele führen Gamer:innen weltweit in konstruierte digitale Vergangenheiten. Wie diese Konstruktionen funktionieren und welche Geschichtsbilder sie vermitteln, untersucht der ÖAW-Historiker Martin Tschiggerl.

Videospiele bringen Spieler:innen in Berührung mit vergangenen Epochen - zum Beispiel mit der europäischen Antike. © AdobeStock

Videospiele haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer der populärsten Medienformen entwickelt. Viele beliebte Games spielen in der Vergangenheit und vermitteln den Spieler:innen dadurch ein bestimmtes Geschichtsbild. Der Historiker Martin Tschiggerl vom Institut für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hat sich ausführlich mit dem Thema “Geschichte in digitalen Spielen” befasst. Im Interview erklärt er, welche Rückschlüsse man aus den digitalen Konstruktionen der Vergangenheit auf die heutige Gesellschaft ziehen kann.

Games sind ein Leitmedium des digitalen Zeitalters.

Warum ist die Darstellung von Geschichte in Videospielen relevant?

Martin Tschiggerl: Wie Geschichte im popkulturellen Kontext dargestellt wird, interessiert Historiker:innen schon seit Jahrzehnten. Digitale Spiele sind besonders spannend, weil sie so beliebt sind. In manchen Altersgruppen spielen 70 bis 80 Prozent der Menschen - und zwar nicht nur junge Leute, sondern mittlerweile auch über 40-Jährige. Games sind ein Leitmedium des digitalen Zeitalters und für Umsätze in Milliardenhöhe verantwortlich. Gerade Titel, die in der Vergangenheit spielen, sind äußerst erfolgreich. Games wie “Assassin’s Creed” oder die “Red Dead”-Reihe leben davon, möglichst ansehnliche Vorstellungen von Geschichte zu vermitteln. Viele Menschen beziehen über diese Medien ihre Geschichtsbilder. Die interessante Frage ist immer, was in diesen Konstruktionen dargestellt wird - und was nicht. 

Vermittlung von Geschichte

Genügen die Darstellungen in den Spielen den professionellen Ansprüchen eines Historikers?

Tschiggerl: Uns geht es gar nicht mehr so sehr um die Frage, ob etwas “falsch” dargestellt wird. Das war eher zu den Anfangszeiten der Game-Forschung ein Thema. Wir konzentrieren uns heute darauf, wie Geschichte vermittelt wird, welche Erzählungen hier vorherrschen und was das über die jeweiligen Gesellschaften sagt, in denen die Spiele produziert wurden.

Wird die Rolle von Videospielen als ernsthaftes Medium noch angezweifelt?

Tschiggerl: Den Vorwurf der Trivialität hat es früher sicher gegeben. Mittlerweile ist aber anerkannt, dass popkulturelle Formate ernst zu nehmen sind. Die Geschichtsbilder, die in digitalen Spielelen vermittelt werden, haben ja auch Konsequenzen: Geschichtslehrer:innen zum Beispiel müssen damit umgehen, dass die Schüler:innen aus den Spielen bestimmte Vorstellungen mitbringen. Zudem werden die historischen Aspekte von Games immer wieder mit aktuellen Debatten vermischt, zum Beispiel wenn es um die Darstellung des Zweiten Weltkriegs geht.

Es ist nicht der springende Punkt, ob es etwas historisch „richtig“ oder „falsch“ ist, sondern warum sich Menschen an bestimmten Dingen stören und an anderen nicht.

Gibt es dafür ein gutes Beispiel?

Tschiggerl: Im populären Spiel “Battlefield 5” wurde eine Soldatin mit kybernetischem Arm gezeigt und es gab auf sozialen Medien sofort Beschwerden darüber, dass das “unhistorisch” sei und das Andenken von “echten” Veteranen beschmutzen würde, zugunsten einer so empfundenen “Social Justice Warrior”-Ideologie. Hier werden aktuelle politische Debatten auf das Geschichtsbild im Spiel projiziert: Das Game ist eine reine Fiktion, aber welche Aspekte der Darstellung wir diskutieren, ist spannend. In sozialen Medien wurde kritisiert, dass eine Frau nicht auf ein Schlachtfeld des Zweiten Weltkriegs gehöre. Bei Darstellungen von verschiedenen Hautfarben in Spielen, die im Mittelalter angesiedelt sind, gab es ähnliche Debatten. Historiker:innen wissen, dass es natürlich kämpfende Frauen im Zweiten Weltkrieg und People of Color im europäischen Mittelalter gab, aber das interessiert politisch motivierte Kritiker:innen wenig. Es ist auch nicht der springende Punkt, ob es etwas historisch „richtig“ oder „falsch“ ist, sondern warum sich Menschen an bestimmten Dingen stören und an anderen nicht.

Was sagt uns die Präferenz für den Zweiten Weltkrieg als Schauplatz?

Tschiggerl: In erster Linie, dass sich der Zweite Weltkrieg gut verkaufen lässt. Es ist auch interessant zu sehen, was diese Darstellungen aussparen. Der Holocaust zum Beispiel kommt so gut wie nie vor. In anderen Medien wäre eine Präsentation des Zweiten Weltkriegs ohne Erwähnung dieser Verbrechen wohl undenkbar. Games trennen aber üblicherweise ganz klar zwischen den kämpfenden Truppen und den Verbrechen, die passiert sind. Das beeinflusst auch, wie wir über die Vergangenheit sprechen.

Ist es problematisch, wie der Zweite Weltkrieg dargestellt wird?

Tschiggerl: Ob man die Gräuel der Nazizeit fiktionalisieren darf, wurde auch im Zusammenhang mit  Filmen wie “Das Leben ist schön” oder “Schindlers Liste” diskutiert. In Videospielen ist die Bandbreite der Darstellungen des Kriegs sehr groß. Das Indie-Game “ Through the Darkest of Times” zum Beispiel zeigt die Tätigkeit von Widerstandskämpfer:innen im Zweiten Weltkrieg, „This War of Mine“ den Überlebenskampf von Zivilist:innen in einer belagerten Stadt. Andere Spiele wurden als Medium für den Schulunterricht entwickelt und sollen historische Fakten so greifbarer machen. Problematisch wird es aus meiner Sicht, wenn versucht wird, den Krieg von den Verbrechen zu trennen. Im Spiel “Hearts of Iron” können die Spieler:innen eine Nation in den 30er-Jahren übernehmen und den Zweiten Weltkrieg durchleben. Sie leiten dann unter anderem als Hitler den NS-Staat und befehligen Nazionalsozialist:innen. Mit den eigentlichen Verbrechen dieser Menschen werden die Spieler:innen aber nie konfrontiert. 

Rechte Propaganda

Viele politisch rechts stehende Gamer sehen das wahrscheinlich eher als Feature, oder?

Tschiggerl: Die Verbindungen zwischen rechter Politik und einem Subsegment der Gamerszene sind bekannt. 2014 haben rechte Gamer:innen auf Online-Plattformen Stimmung gegen Frauen in der Spielebranche gemacht. Auch gegen People of Color und Homosexuelle gibt es aus dieser Blase immer wieder Anfeindungen. Die Gruppierung ist unglaublich laut, aber bei weitem nicht so groß, wie sie scheint. Rechte Gamer:innen haben einfach früh gelernt, über soziale Medien Mobs zu organisieren, die über politisch Andersdenkende herfallen. Es wird Stimmung gemacht gegen die Darstellung von progressiven Ansichten in Spielen, meist unter dem Vorwand, es gehe um “historische Korrektheit”. Das ist natürlich Blödsinn, diese Leute wollen eindeutig eine bestimmte Art von Politik machen. 

Sind Videospiele ein Mittel für Propaganda?

Tschiggerl: Vereinzelt ja: Die rechtsextremen Identitären haben zwei digitale Spiele herausgebracht, in denen man die “Heimat” gegen Zuwander:innen verteidigen muss. Faschist:innen waren immer gut im Umgang mit neuen Medien. Es wird versucht, den Anschein zu erwecken, dass rechtes Gedankengut von einer organisch gewachsenen ‘Basis’ verbreitet wird. In Wahrheit stehen dahinter gezielte Kampagnen, russische Trollfabriken und rechte Parteien. 

Die Mehrheit der Spieler:innen zeigt mit ihren Kaufentscheidungen deutlich, dass sie progressive Ansichten bevorzugen.

Was tut die Spieleindustrie, um sich vor einer Vereinnahmung zu schützen?

Tschiggerl: Hier zeigt der Markt seine gute Seite: Die Publisher wollen ihre Spiele verkaufen und die Mehrheit der Spieler:innen zeigt mit ihren Kaufentscheidungen deutlich, dass sie progressive Ansichten bevorzugen, egal ob es um Frauen, die LGBTQ-Community oder Minderheiten geht. 

Werden neue Erkenntnisse aus der Geschichtsforschung in Spielen übernommen?

Tschiggerl: Viele Dinge werden nicht nach aktuellem Kenntnisstand dargestellt: Dinosaurier haben in Games selten Federn und Statuen und Tempel im antiken Rom oder Griechenland sind immer weiß anstatt bunt. Aber historische Korrektheit ist wie gesagt auch nicht der Anspruch, in digitalen Spielen geht es um Unterhaltung. Die Darstellung von Jerusalem in Assassin's Creed ist sehr beeindruckend - auch wenn die Stadt vielleicht ganz anders ausgesehen hat. 

 

Auf einen Blick

Martin Tschiggerl ist Historiker und seit 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).