07.06.2024 | Pride Month

„Es geht um Gleichheit und Würde von allen Menschen“

Warum Autokratien Angst vor LGBTIQ-Rechten haben und weshalb diese Rechte zum Kern liberaler Demokratien gehören, erklärt die Politologin Kristina Stoeckl im Interview.

Der Kampf um die Rechte von sexuellen Minderheiten ist ein Kampf, der die Gesellschaft für alle gerechter macht. © AdobeStock

Der aktuelle Pride Month erinnert auch daran, dass trotz wachsender Diversität in der Welt in vielen Ländern Angriffe auf queere Menschen zunehmen. Selbst mitten in Europa werden die Rechte von sexuellen Minderheiten wieder in Frage gestellt. Wie autokratische Akteure mit Hass gegen queere Menschen Politik machen, dazu forscht die Politikwissenschaftlerin Kristina Stoeckl von der Universität Innsbruck. 

In ihrem im Journal of Democracy veröffentlichten Artikel „The Global Resistance to LGBTIQ Rights“ und im Buch „The Global Fight Against LGBTIQ-Rights“, das im Juni 2024 erscheint, zeigt sie gemeinsam mit Phillip Ayoub auf, dass der Widerstand gegen die Rechte von sexuellen Minderheiten ein Zeichen für einen größeren Konflikt ist: Das Prinzip der Gleichheit ist grundlegend für liberale Demokratien und wird von autokratischen Regierungen abgelehnt.

Warum haben autokratische Politiker:innen Angst vor LGBTIQ-Rechten?

Kristina Stoeckl: Autokratische Akteure haben Angst vor der liberalen Demokratie. Trans- und Homofeindlichkeit dient autokratischen Regierungen als Instrument, um ihr eigentliches Ziel durchzusetzen: demokratische Rechte zu bekämpfen. Denn: Liberale Demokratie schließt die Idee von Gleichheit und von Minderheitenrechten genauso mit ein, wie die Redefreiheit und die Freiheit, Regierungen zu kritisieren.

In dem Artikel, den ich gemeinsam mit meinem Kollegen Phillip Ayoub im Journal of Democracy veröffentlicht habe, und auch in unserem Buch argumentieren wir, dass der Kampf gegen die Rechte von sexuellen Minderheiten für etwas Größeres steht. Das Gleichheitsprinzip bildet die Basis von liberalen Demokratien – und das ist es, was autokratische Regierungen ablehnen.

Autokratien instrumentalisieren Vorurteile

Trans- und Homofeindlichkeit dient autokratischen Regierungen als Instrument, um ihr eigentliches Ziel durchzusetzen: demokratische Rechte zu bekämpfen.

Bedeutet das, dass Homo- und Transphobie als autoritäres Markenzeichen eigentlich nur ein Symptom ist?

Stoeckl: Ja, und das ist ein wichtiger Punkt. Auf diese Gruppe von Menschen einzuschlagen, stellvertretend für eine Ordnung, die allen Menschen gleiche Rechte und Würde zugesteht, ist sehr verlockend für viele Autokratien. In vielen Gesellschaften gibt es Vorurteile gegen homosexuelle und transsexuelle Menschen. Autokratische Regierungen verstärken diese Vorurteile und verknüpfen LGBTIQ Rechte rhetorisch mit liberaler Demokratie. Dann können Autokratien der Bevölkerung propagandistisch vermitteln: Demokratie ist unattraktiv, unmoralisch, ich schütze euch vor ihr. In westlichen Demokratien, die sich bemühen LGBTIQ-Rechte zu wahren, herrscht oft die Meinung vor, dass es in anderen Ländern einfach noch Zeit braucht, bis sie ein pluralistisches Gesellschaftsmodell und Toleranz eingeübt haben, so im Sinne von „sollen sie erst mal demokratische Übung bekommen, dann stellen sich auch irgendwann LGBTIQ Rechte ein“. Was dabei verkannt wird: Autokratische Regierungen wollen gar nicht erst in diese Liberalisierungs-, Pluralisierungs- und Demokratisierungsprozesse hineinkommen.

In Ihrem Artikel machen Sie das auch an den Begriffen „fluidity“ und „fixity“ fest. Haben die Anhänger:innen von autoritären Politiker:innen Angst vor Veränderung?

Stoeckl: Sich gegen LGBTIQ-Rechte auszusprechen kann für autokratische Akteure ein einfaches Vehikel für Legitimation sein – eines, das die Menschen emotional anspricht, das vielleicht auch ihre Ängste und ihre tiefsten Verunsicherungen berührt. Der Begriff der Fluidität bezieht sich auf sexuelle Identität, sexuelle Orientierung und Geschlechteridentität. Aber nicht nur: Es gibt viele Dinge, die in einer pluralistischen Gesellschaft fluide und wandelbar sind. Gesellschaften verändern sich. Wenn man sich vor Augen führt, dass einem Land wie Russland seit 2000 derselbe Machthaber vorsteht, der sich erst kürzlich noch einmal bestätigen ließ, also ein Vierteljahrhundert dieselbe Regierung, dann ist die Idee von Wandel für viele in der Gesellschaft eine Bedrohung. 

Der Kampf gegen LGBTIQ-Rechte findet auch mitten in Europa in statt.

Stoeckl:  Nehmen wir ein Land wie Ungarn. Abgesehen vom Mechanismus zur Verhinderung von liberaler Demokratie, den ich gerade angesprochen habe, kann der Kampf gegen LGBTIQ-Rechte Regierungen auch Statusvorteile bringen. Das klingt jetzt erst mal paradox, aber Ungarn, ein mittelkleines EU-Land, ist ob Orbans Haltung gegen LGBTIQ-Rechte politisch sichtbarer, als es sonst wäre: US-amerikanische christliche Rechte feiern Orban, die EU muss sich mit Ungarn beschäftigen. Gegen LGBTIQ-Rechte zu sein, kann den Status erhöhen und rechte Allianzen schaffen.

Orbans Haltung gegen LGBTIQ-Rechte macht das kleine Ungarn politisch sichtbarer, als es sonst wäre: US-amerikanische christliche Rechte feiern Orban, die EU muss sich mit Ungarn beschäftigen.

Was macht den Kampf gegen LGBTIQ-Rechte zu einem globalen Konflikt?

 

Stoeckl: Wie illiberale Regierungen das Thema LGBTIQ-Rechte als Waffe einsetzen, folgt überall demselben Muster. Autokrat:innen und Populist:innen schüren Ängste, dass vage definierte liberale Eliten oder die so bezeichnete „Gay-Lobby“ Traditionen, Werte und Souveränität angreifen und „unsere Kinder verderben“ würden. Dieses Bestreben, liberale Demokratie und ihre Instrumente – die individuellen Menschenrechte, eine aktive, freie Zivilgesellschaft – unattraktiv zu machen, wird weitergehen. Mit dramatischen Folgen für homosexuelle und transsexuelle Menschen, die lokal Opfer von Repressionen werden, deren Ziel eigentlich die Störung der liberalen globalen Ordnung ganz allgemein ist. Was auch gesagt werden muss: Es gibt natürlich keine internationale „Gay-Lobby“. Viele Forderungen der LGBTIQ Bewegung stellen eine Stärkung und Bestätigung jener Werte dar, die die Populist:innen vermeintlich verteidigen: das Recht auf Eheschließung, darauf, eine Familie zu gründen, Kinder großzuziehen, im Alter als Paar rechtlich anerkannt füreinander Sorge zu tragen.

Rolle der Religion

Welche Rolle spielt hier die Religion?

Stoeckl: Die Religion spielt eine wichtige Rolle. Alle großen Religionen, sowohl die christlichen als auch der Islam sind mehrheitlich gegenüber Homo- und Transsexualität negativ eingestellt, weil sie am Modell der Familie als Gemeinschaft von einem Mann und einer Frau mit ihrem biologischen Nachwuchs festhalten. Homosexualität und Transsexualität gilt ihnen als Übel und –wenn Menschen zu ihrer sexuellen Orientierung und Gender-Identität stehen – als Sünde. Natürlich gibt es auch vielerorts Anzeichen von Wandel und Öffnung, zum Beispiel in der anglikanischen, in einigen protestantischen Kirchen und in der katholischen Kirche in Deutschland. In Russland hat sich die russisch-orthodoxe Kirche voll und ganz dem Kampf gegen LGBTIQ-Rechte verschrieben. In dem Buch „The Moralist International. Russia in the Global Culture Wars“, das ich gemeinsam mit Dmitry Uzlaner 2022 veröffentlicht habe, analysieren wir den russisch-orthodoxen Identitätsdiskurs, der sich auf moralische Werte und auf den Kampf gegen sexuelle Minderheiten beschränkt. Die russisch-orthodoxe Kirche ist ein gutes Fallbeispiel dafür, dass Religionen einerseits Akteure und Motoren des globalen Kampfes gegen LGBTIQ-Rechte sind, andererseits aber auch zu dessen Produkt werden. Andere religiöse Themen und Prioritäten – Frieden, Gastfreundschaft, Gerechtigkeit – verschwinden aus dem Blick, wenn religiöse Gruppen sich ganz und gar dem Kampf gegen LGBTIQ-Rechte verschreiben.

Die EU-Richtlinie gegen Diskriminierung bezieht sich zwar in einigen Punkten nur auf das Arbeitsrecht, steht aber auch für Gleichbehandlung und demokratische Teilhabe aller Menschen.

Wie können wir in liberalen Demokratien auf den globalen Angriff auf LGBTIQ-Rechte reagieren und sie wirksam verteidigen?

Stoeckl: In unserem Beitrag im Journal of Democracy weisen mein Co-Autor Phillip Ayoub und ich am Ende darauf hin, dass auch die westlichen Länder Verantwortung dafür tragen, dass homosexuelle und queere Menschen in vielen Ländern derart der Verfolgung ausgesetzt sind. Die Politik der Sichtbarkeit, z.B durch Pride-Paraden und die Regenbogenfahne, die viele westliche LGBTIQ-Organisationen in anderen Ländern forciert haben, ist zweifelsohne gut gemeint. Ebenso eine Außenpolitik, die auf die Einhaltung von LGBTIQ-Rechten pocht. Sichtbarkeit ist aber auch zweischneidig, denn sie exponiert diejenigen Menschen, die ohnehin extrem vulnerabel sind. Wir plädieren dafür, dass immer die Menschen vor Ort die Expert:innen dafür sind, wie ihnen am besten geholfen werden kann.

Was die westlichen Regierungen und konkret die EU-Außen- und Erweiterungspolitik betrifft, so würde ich mir wünschen, dass vollständig kommuniziert wird, worum es beim Prinzip der Nichtdiskriminierung von LGBTIQ-Gruppen geht. Minderheitenrechte werden erst mal so genannt, weil die meisten Rechtssysteme historisch gewachsen sind und verschiedenste Benachteiligungen von bestimmten Gruppen „eingebaut“ haben: von Frauen, von homosexuellen und transsexuellen Menschen, von ethnischen und religiösen Minderheiten, von sozial Schwachen, von beeinträchtigten Menschen. Die EU-Richtlinie gegen Diskriminierung bezieht sich zwar in einigen Punkten nur auf das Arbeitsrecht, steht im erweiterten Sinne aber für Gleichbehandlung und demokratische Teilhabe aller Menschen unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung, Alter, Herkunft, Religion, körperlicher Beeinträchtigung, etc. Wir müssen klarer kommunizieren, worum es geht, wenn wir LGBTIQ-Rechte verteidigen: Es geht um Gleichheit und Würde von allen Menschen.

 

 

Auf einen Blick

Kristina Stoeckl ist Professorin für Soziologie an der Luiss Rom und Mitglied der Jungen Akademie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sie ist START-Preisträgerin des Wissenschaftsfonds FWF und Preisträgerin eines Starting Grant des European Research Council (ERC).

Gemeinsam mit Dmitry Uzlaner hat sie im Dezember 2022 das Buch „The Moralist International: Russia in the Global Culture Wars“ (Fordham University Press, 2022) veröffentlicht, das in der e-Version kostenlos heruntergeladen werden kann. Die Forschung für dieses Projekt wurde vom ERC gefördert.

Sie ist Koautorin (mit Phillip Ayoub) von „The Global Fight Against LGBTI Rights: How Transnational Conservative Networks Target Sexual and Gender Minorities“ (New York University Press), das im Juni 2024 erscheinen wird.