04.07.2024 | Fußball

Das Spielfeld jenseits der Outlinie

Was kann Fußball in einer Gesellschaft bewirken – und was nicht? ÖAW-Historiker Martin Tschiggerl über türkische Österreich-Fans, pinke Trikots und rechte Trittbrettfahrer:innen.

Bunt und vielfältig - auch so kann Fußball sein. © AdobeStock/KI generiert

Alle vier Jahre versammeln sich die stärksten Fußballländer Europas, um das beste Team in ihren Reihen zu bestimmen. Doch entgegen der landläufigen Vermutung endet das Spielfeld bei einer Europameisterschaft nicht an der Outlinie. Vielmehr steht der Fußball gerade in Zeiten von Großereignissen in enger Wechselwirkung mit Gesellschaft und Politik.

Auch die aktuell laufende Europameisterschaft in Deutschland ist hier keine Ausnahme. Vor dem Hintergrund erstarkender rechter Strömungen in Europa und dem parallelen Ringen um mehr Gerechtigkeit schildert der Historiker Martin Tschiggerl vom Institut für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), der unter anderem zum Einfluss von Fußball auf nationale Identitäten forscht, was Fußball in einer Gesellschaft alles bewirken kann - und wo selbst dem Fußball die Hände gebunden sind.

Zwischen Chance und Gefahr

Österreich spielte am Dienstag gegen die Türkei, im Vorfeld wurde doe Partie als Hochrisikospiel eingestuft, aufgrund von Auseinandersetzungen zwischen Fan-Lagern der Vergangenheit. Sehen Sie in einem derartigen Fußball-Spiel eher eine Gefahr oder eine Chance für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Martin Tschiggerl: Es ist beides. Beim Fußball haben wir immer das Problem, dass es eine kleine aber gewaltbereite Minderheit innerhalb der Fans gibt. Diese Menschen benutzen den Sport als Vehikel und Vorwand, um Gewalt ausüben zu können. Und natürlich warten die Boulevardmedien nur auf derartige Auseinandersetzungen.

Insgesamt sehe ich so ein Spiel aber als Chance, nicht zuletzt hinsichtlich multipler nationaler Identitäten: Es gibt beispielsweise viele Türkei-Fans, die entschlossen zu Österreich halten, wenn die Türkei gerade nicht spielt.

Man kann stolz sein ohne die Gegner:innen herabzuwürdigen.

Darf man Stolz auf die eigene Nationalmannschaft empfinden?

Tschiggerl: Ja natürlich darf man das. Wir zahlen in Österreich Steuern, damit wird unter anderem die Sportförderung bezahlt, Vereine gefördert und Großereignisse finanziert.

Man muss aber da aufpassen, wo Stolz in Nationalismus und Hass umschlägt: Man kann stolz sein ohne die Gegner:innen Österreichs herabzuwürdigen.

Rechtes Marketing

Im Fansektor Österreichs tauchte bei der EM ein rechtsextremes Transparent auf. Lässt sich das Problem mit der Abgrenzung nach rechts im Fußball überhaupt in den Griff bekommen?

Tschiggerl: Die neuen Rechten sind sehr erfolgreich darin, sich in der Öffentlichkeit neue Verhandlungsspielräume anzueignen. Sie haben Medienkampagnen und Guerillamarketing von linken Bewegungen kopiert und nutzen diese, um die eigene Position öffentlichkeitswirksam zu vertreten. Und das werden sie auch weiterhin machen. Da ist auch der Sport selbst, etwa der Österreichische Fußballbund, und genauso die Zivilgesellschaft gefordert. Ralf Rangnick, Cheftrainer Österreichs, hat beispielsweise bereits darauf reagiert.

In einer idealen Welt würde die Fankurve das selbst regeln, das kann man bei weniger straff organisierten Fanszenen von Nationalmannschaften nicht erwarten. Dass Rechtsextreme in Fankurven vertreten sind, stellt auch beispielsweise für deutsche oder italienische Fußballclubs eine Herausforderung dar. Das einzudämmen, ist eine Aufgabe des Fußballbundes oder von Vereinen. Dass es anders geht, zeigen zum Beispiel Fußballclubs wie St Pauli, dessen Fanszene in der linken politischen Richtung beheimatet ist. Ich würde gerne mal sehen, was passiert, wenn Identitäre ein Banner bei St. Pauli aufzuspannen versuchen.

Vom Sommermärchen übrig geblieben ist die Normalisierung des Nationalen.

Bei der Weltmeisterschaft 2006 war Deutschland – wie bei der aktuellen Europameisterschaft – Gastgeber. Das Land inszenierte sich damals einerseits als weltoffener Gastgeber und zeigte andererseits einen neuen Patriotismus. Was ist vom „Sommermärchen“ von damals heute noch übrig?

Tschiggerl: Ich würde das Sommermärchen von damals nicht als Auslöser sehen, sondern als Symptom für ein neugefundenes geändertes Selbstbewusstsein Deutschlands, das nach der Wiedervereinigung allmählich entstanden ist.

Vom Sommermärchen übrig geblieben ist jedenfalls die Normalisierung des Nationalen. Anlässlich der WM 2006 war beispielsweise in Feuilletons großer deutscher Zeitungen eine umstrittene Frage, ob man die deutsche Fahne schwenken darf, ob das in Hinblick auf die eigene Geschichte überhaupt zulässig ist.  Heute ist das kein Thema mehr. Deutschland hat sich beim Umgang mit der eigenen Nationalität an andere Länder Europas angepasst.

Welche Entwicklungen sind derzeit in Deutschland zu beobachten?

Tschiggerl: So wie 2006 hat Deutschland heute eine Nationalmannschaft, mit der sich die Bevölkerung in Deutschland grundsätzlich auch gut identifizieren kann, ohne in den Nationalismus abzugleiten: Sie ist multikulturell geprägt und vertritt glaubhaft Botschaften der Pluralität und Diversität, beispielsweise auch mit den pinken Trikots.

Genau diese Trikots haben allerdings die neue Rechte auf den Plan gerufen: Als Gegenbewegung zum Pride Month starteten sie auf Sozialen Medien den Hashtag Stolzmonat, unter dem national eingestellte deutsche Accounts kundtun, sich nicht mit dieser deutschen Nationalmannschaft zu identifizieren, um sich stattdessen gegen Diversity und Spieler mit Migrationshintergrund zu positionieren.

Nationalmannschaft als Musterbeispiel

Ginge es nach der FPÖ, wären zahlreiche Spieler keine österreichischen Staatsbürger und damit auch nicht Teil dieser Mannschaft.

In Europa sind rechte Parteien und Bewegungen generell auf dem Vormarsch. Frankreichs Fußball-Star Kylian Mbappé und auch Österreichs Chef-Trainer Ralf Rangnick haben unmissverständlich davor gewarnt, Rassismus und Ausgrenzung zu dulden. Aber welchen Einfluss hat der Fußball denn überhaupt auf Politik und Gesellschaft?

Tschiggerl: Ich glaube nicht, dass Ralf Rangnick jemanden davon abhalten kann, dass er oder sie die FPÖ wählt. Denn man muss auch sehen, dass rechte Parteien in Europa derzeit aus unterschiedlichsten Gründen gewählt werden. Daran wird der Sport nicht viel ändern können.

Vertreter:innen des Sports, wie eben Ralf Rangnick, können sich aber dennoch positionieren. Gerade die erfolgreiche österreichische Nationalmannschaft mit vielen Spieler:innen mit Migrationshintergrund zeigt doch auch die Vorteile einer pluralen Gesellschaft auf. Ginge es nach der FPÖ, wären zahlreiche Spieler keine österreichischen Staatsbürger und damit auch nicht Teil dieser Mannschaft.

Die Nationalmannschaft kann man also durchaus als Musterbeispiel betrachten, auch um zu zeigen, dass auch Menschen, die nicht in Österreich geboren wurden, oder deren Eltern nicht aus Österreich stammen, in und für Österreich Erfolg haben können.

Diverse, multikulturelle nationale Identität

Erfolgreiche Sportler:innen werden von Politiker:innen üblicherweise rasch vereinnahmt. Darf und sollte Sport überhaupt politisch sein?

Tschiggerl: Sport ist politisch und wird immer politisch sein. Ein Beispiel: Es gibt einen möglichen Zusammenhang zwischen sportlichen Erfolgen und dem Erfolg von Regierungen: Wenn ein Land beispielweise Europameister wird, kann das den regierenden Parteien helfen, wie man in der Vergangenheit immer wieder gesehen hat.

Man muss den Sport also als politischen Faktor wahrnehmen – und kann das zugleich aber auch analytisch betrachten: Der Besuch von Bundeskanzler Nehammer und Vizekanzler Kogler in der Kabine der Spieler nach Österreichs Sieg gegen die Niederlande ist beispielsweise auf Kritik von vielen Seiten gestoßen. Generell ziehen sich die Bestrebungen von politischer Seite, sich den Erfolg von Sportler:innen anzueignen, durch das gesamte 20. und 21. Jahrhundert. Man denke nur an die Olympischen Winterspiele 1956, bei denen die Goldmedaillen von Toni Sailer genutzt wurden, um nach dem Zweiten Weltkrieg eine österreichische Nationalität zu konstruieren.

Das kann natürlich auch in unterschiedliche politische Richtungen passieren, wie man etwa in Deutschland sieht, wo die Nationalmannschaft dazu beitragen soll, eine diversere, multikulturelle nationale Identität zu konstruieren.

© IKW | Stefan Csáky

 

Auf einen Blick

Martin Tschiggerl ist Historiker und seit 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).