20.03.2024

Die Aussprache von /l/ in Ostösterreich: Gibt es das velarisierte [ɫ] außerhalb von Wien?

Jan Luttenberger, Nina Weihs und Eva Reinisch aus dem Fachbereich Phonetik am ISF haben eine phonetische Studie zur Aussprache des Lautes /l/ in den Ostösterreichischen Dialekten durchgeführt.

Abbildung 1: Karte von Österreich mit den untersuchten Orten. Die geometrische Form bezieht sich auf die Zuordnung zu den Dialektregionen des Bairischen (Quadrat: WCB = Westmittelbairisch in Salzburg und Oberösterreich, Kreis: ECB = Ostmittelbairisch in Oberösterreich und Niederösterreich, Dreieck: SCB = Südmittelbairisch in der Steiermark, Niederösterreich und dem Burgenland), die Farbe auf für die statistische Analyse zu Regionen zusammengefasste Orte (Schwarz: “Ostregion”, Grau: “Westregion”, Weiß: “Südregion”). Die Abbildung hier entspricht Figure 1 aus dem hier zitierten Artikel, Luttenberger et al. (2024).

Im Standarddeutschen und den Dialekten in Österreich gibt es nur einen einzigen phonologischen Laterallaut /l/, der typischerweise mit dem alveolaren Lateral [l] assoziiert wird. Abhängig von der Position im Wort und der jeweiligen Varietät werden jedoch auch andere Varianten des Lautes benutzt, zum Beispiel der velarisierte alveolare Lateral [ɫ]. Beide Varianten des Laterals sind durch einen Verschluss zwischen Zungenspitze oder -blatt und dem oberen Zahndamm hinter den Schneidezähnen gekennzeichnet, neben dem seitlich die Luft entweichen kann. Beim velarisierten [ɫ] kommt eine zweite Zungengeste hinzu, bei dem der Zungenrücken in Richtung des weichen Gaumens oder der Rachenwand angehoben bzw. zurückgezogen wird. Akustisch führt diese Geste dazu, dass die Frequenz des zweiten Formanten abgesenkt wird, wodurch ein „dunkler” Höreindruck, vergleichbar mit einem <u>, entsteht. Dieser Unterschied ist graduell, d.h. ein /l/ kann mehr oder weniger stark velarisiert sein, wobei eindeutig velarisierte Laterale meist einen F2 von weniger 1200 Hz aufweisen (zwei kontrastive Hörbeispiele mit den Worten "Esel" und "lesen" einmal vorgetragen mit "hellem" alveolaren /l/ und anschliessend mit velarisiertem /l/ finden Sie ganz unten auf der Seite).

Bisher ist diese Variante vor allem für den Dialekt in Wien beschrieben worden, wo sie wortinitial (z.B. in „Lied”) und als Silbenträger in Nebensilben nach alveolaren Konsonanten auftritt (z.B. in „Sessel”, wobei das zweite <e> zumeist getilgt wird). Aus Nieder- und Oberösterreich liegen bislang nur vereinzelte Studien und Berichte vor. Daher wurde bis jetzt davon ausgegangen, dass es sich in erster Linie um eine Eigenschaft des Wiener Dialekts handelt. Die soeben erschienene Studie geht der Frage nach, ob das velarisierte [ɫ] auch in den ländlichen Dialekten Ostösterreichs vorkommt. Dazu wurde die Aussprache von /l/ von 68 Sprecherinnen und Sprechern aus 17 Orten in Salzburg, Oberösterreich, Niederösterreich, der Steiermark und dem Burgenland in jeweils 54 Wörtern untersucht. Die Daten stammen aus dem dem Spezialforschungsbereich “Deutsch in Österreich. Variation – Kontakt – Perzeption” (https://www.dioe.at/).

Für die Analyse wurde die Differenz zwischen den Frequenzen des ersten und zweiten Formanten als Parameter herangezogen, um physiologische Unterschiede zwischen den Sprecherinnen und Sprechern auszugleichen. Zur besseren statistischen Vergleichbarkeit wurden die untersuchten Orte außerdem in drei Gruppen zusammengefasst: eine Ostregion im mittelbairischen Dialektraum in Niederösterreich und dem Mühlviertel, eine anschließende Westregion über Oberösterreich und Salzburg, und eine Südregion im südmittelbairischen Dialektraum in Niederösterreich, der Steiermark und dem Burgenland (siehe auch Abbildung 1). Die Analysen zeigten einige interessante Ergebnisse, hier auszugsweise in Abbildung 2 wiedergegeben: Tatsächlich ist die velarisierte Variante [ɫ] (etwa ab einer Differenz F2-F1 von weniger als 1000 Hz) in Niederösterreich und Oberösterreich weit verbreitet, allerdings tendenziell in wortfinaler Position wie in <Sessel>, während das /l/ in wortinitialer Position, etwa in <Lied>, nicht oder weniger stark velarisiert wird. Dieses Verteilungsmuster, das in ähnlicher Weise auch im Standardenglischen oder -niederländischen besteht, ist am deutlichsten in Niederösterreich und dem westlichen Oberösterreich ausgeprägt – also zu finden in „East Region“ und „West Region“ in Abbildung 2. Diese regionale Ähnlichkeit deckt sich mit der Klassifikation der dortigen Dialekte als Ostmittelbairisch. Außerhalb dieser Region nimmt die Häufigkeit der velarisierten Variante [ɫ] mit der Entfernung zu Wien ab. Ebenso war zu beobachten, dass Frauen weniger häufig die velarisierte Variante [ɫ] verwenden als Männer, was auch schon in früheren Studien für Wien beschrieben wurde. Schließlich gibt es kaum einen Unterschied zwischen jüngeren und älteren Sprecherinnen und Sprechern, sodass die Verwendung des velarisierten [ɫ] über die Generationen stabil zu sein scheint. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Laut /l/ in velarisierter Form auch außerhalb Wiens auftritt und es sich somit nicht um ein rein Wienerisches Phänomen handelt.

Luttenberger, Jan; Weihs, Nina; Reinisch, Eva (2024): The velarized lateral [ɫ] in East Austrian base dialects. In: Journal of the International Phonetic Association, 1–26.
Der englischsprachige Artikel ist hier frei einsehbar: https://doi.org/10.1017/S0025100323000300

 

Wie klingt das alveolare oder das velarisierte /l/?

Hörbeispiel 1  Hörbeispiel 2
Die Worte "Esel" und "lesen" einmal mit "hellem" alveolaren /l/ und anschliessend mit mit velarisiertem /l/. Beide Hörbeispiele eingesprochen von Jan Luttenberger © Jan Luttenberger/ISF, ÖAW.