13.06.2023

Welche Rolle spielt Erst- und Zweitsprache bei der Auswertung von Sprachentwicklungsstörungen?

Eva Reinisch, Wissenschaftlerin am Institut für Schallforschung und Gruppenleiterin des Fachbereichs Phonetik hat zusammen mit ihren Kolleginnen Carolin Schmid, Claudia Klier und Brigitte Eisenwort von der MedUni Wien eine Studie zur Diagnose Sprachentwicklungsstörung bei mehrsprachigen Kindern durchgeführt und gibt Auskunft über die Resultate.

Versuchsaufbau @ Carolin Schmid

In Wien erwerben ca. 60% der Kindergartenkinder eine andere Erstsprache als Deutsch. Bei vielen dieser Kinder ist im Vergleich zu einsprachig aufwachsenden Kindern ein Rückstand im Erwerb des Deutschen zu beobachten, z.B. in der Aussprache, dem Wortschatz oder der Grammatik. Von den Bezugspersonen des Kindes kann oft nicht gut eingeschätzt werden, ob es sich dabei um einen Rückstand handelt, der im Rahmen der Mehrsprachigkeit typisch ist und später einfach aufgeholt werden kann (die Kinder hören weniger Deutsch als einsprachig aufwachsende Kinder), oder ob dieser Rückstand ein Zeichen für eine klinisch relevante Sprachentwicklungsstörung ist. Noch komplizierter wird die Einschätzung, wenn das Kind eine weitere Erkrankung hat, die ursächlich für die Sprachentwicklungsauffälligkeiten sein könnte, aber nicht sein muss (eine sogenannte komorbide Sprachentwicklungsstörung). Eine korrekte Einschätzung der Kinder ist wichtig, um Fehldiagnosen zu vermeiden, da einerseits die fälschliche Diagnose Sprachentwicklungsstörung Konsequenzen für das Selbstbewusstsein und die schulischen Möglichkeiten des Kindes haben kann, und andererseits bei einer unbemerkten Sprachentwicklungsstörung dem Kind wichtige Sprachtherapie vorenthalten wird.

Die vorliegende Studie beschreibt erstmalig die Gruppe mehrsprachiger Kinder, die in den letzten 8 Jahren mit Verdacht auf Sprachentwicklungsstörung in eine spezielle Sprechstunde am AKH Wien geschickt wurden (welche von Univ. Prof. Dr. Brigitte Eisenwort gegründet und bis 2022 geleitet wurde). Dort wird nicht nur - wie üblich - die Sprachentwicklung des Deutschen evaluiert, sondern auch auf die Erstsprachen der Kinder eingegangen. Die Studie diskutiert die Ergebnisse dieser linguistischen Evaluierung in Erst- und Zweitsprache in Bezug auf soziodemographische Parameter sowie Primärerkrankungen. Dabei wird die Rolle der Erstsprachevaluierung in der Diagnosepraxis reflektiert.

Wir konnten zeigen, dass die Gruppe der mehrsprachigen Kinder mit Verdacht auf Sprachentwicklungsstörung insgesamt sehr heterogen ist. Unter den insgesamt 270 Kindern, deren Daten analysiert wurden, waren 37 verschiedene Erstsprachen vertreten; 26% der Kinder waren außerdem regelmäßig mit einer dritten oder sogar noch mehr Sprachen konfrontiert. Bei Kindern mit Primärerkrankung variierte der Anteil der Kinder mit typischer Entwicklung und Sprachentwicklungsstörung je nach Grunderkrankung, aber nur bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung bekamen 100% der Kinder, bei denen ein Verdacht auf Sprachentwicklungsstörung bestand, auch die entsprechende Diagnose. Kinder ohne Primärerkrankung waren mit höherer Wahrscheinlichkeit trotz anfänglichem Verdacht auf Sprachentwicklungsstörung typisch entwickelt. Zusammenhänge gab es dabei mit dem Alter des Kindes bei der Untersuchung (d.h. je älter umso eher typisch entwickelt), wann die ersten Worte gesprochen wurden (d.h. je früher umso eher typisch entwickelt) und dem früheren Vorkommen von Sprachentwicklungsstörungen in der Familie (wenn es bereits andere Personen in der Familie mit einer Sprachentwicklungsstörung gab, war auch die Wahrscheinlichkeit höher, dass das untersuchte Kind letztendlich die Diagnose Sprachentwicklungsstörung bekam).

Unsere Daten zeigen, dass es große Variation zwischen den Kindern gibt und viele Faktoren die Deutschkenntnisse des Kindes auf komplexe Weise beeinflussen. Wir argumentieren daher, dass es nicht für jedes Kind ein standardisiertes Verfahren zur Sprachevaluierung geben kann. Eine Erstsprachevaluierung mit Screening-Verfahren und Spontansprachanalyse, zusätzlich zu Deutsch-Evaluierung und Elternfragebogen, ist sinnvoll, um valide Daten über die Kenntnisse des Kindes auf verschiedenen linguistischen Ebenen zu gewinnen und um den Kindern eine bestmögliche Förderung zu empfehlen.

Dies bedeutet aber auch, dass wir dringend mehr Wissen über die unauffällige Sprachentwicklung mehrsprachiger Kinder benötigen um die nötigen Referenzwerte und Erkenntnisse zu erhalten, die wir brauchen um Kinder schon in einem frühen Alter zu evaluieren und bei Förderbedarf eine optimale Förderung anbieten zu können. Dies soll in einem nächsten Schritt untersucht werden.

Durch die Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Neuropsychiatrie wird unsere Arbeit einem breiten Fachpublikum aus den Fachgebieten Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Sozialpsychiatrie, sowie Klinische Linguistik, präsentiert.

Schmid, Carolin; Reinisch, Eva; Klier, Claudia, Eisenwort, Brigitte (2023): "Assessment of first language adds important information to the diagnosis of language disorders in multilingual children" in: Neuropsychiatrie.

DOI: doi.org/10.1007/s40211-023-00469-w

Das Projekt wurde im Jahr 2020 von einer Stadt-Wien-Förderung unterstützt.