Thusnelda Kolbinger-Wolkenstein – eine Frau zieht in den Krieg

Einen Monat nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und auf seine Ehefrau Sophie, geb. Gräfin Chotek, in Sarajewo erklärte Österreich-Ungarn am 28. Juli 1914 Serbien den Krieg. Auf den galizischen Kriegsschauplatz rückte damals ein Soldat namens Karl Kolbinger ein. Hinter diesem Namen versteckte sich jedoch seine Schwester Thusnelda, die sich als junger Mann verkleidet mit dem Einberufungsbefehl ihres bereits im Alter von zwei Jahren verstorbenen Bruders in die k. u. k. Armee schmuggelte, gedeckt durch Erzherzog Karl, den späteren Kaiser Karl I.

Wie die Lehrerstochter auf die Bühne kam

Thusnelda Kolbinger kam am 5. März 1888 als Tochter des Bürgerschullehrers Laurenz Leopold Josef Kolbinger und seiner Frau Franziska, geb. Stelzer, in Wien zur Welt und wurde katholisch erzogen. Nelly, wie sie genannt wurde, galt als sehr kunstinteressiert und absolvierte nach dem Besuch der Bürgerschule mit Unterstützung ihrer Verwandtschaft eine Ausbildung zur Operettensängerin. Unter ihrem Künstlernamen Nelly Niels trat sie insbesondere 1908 und 1909 in kleineren Etablissements, unter anderem in Baden, Graz, Linz, Teplitz-Schönau (tschechisch Teplice) und am Deutschen Volkstheater in Prag auf. Im Jahre 1908 lernte sie – vermutlich während einer Gastspieltournee – durch ihren Onkel, einen Oberst in Bunzlau bei Prag, Erzherzog Karl, kennen. Als sie diesen 1914 in einer prekären Angelegenheit um Hilfe ersuchte, versuchte der spätere Kaiser Kolbinger für den Sanitätsdienst an der Kriegsfront zu gewinnen.

Dies kam nicht von ungefähr. Der bisher unübliche Einsatz von Massenheeren, die Kriegführung im Hochgebirge sowie der Ausbruch von Infektionskrankheiten verlangten dem Sanitätspersonal und den Militärärzten im Ersten Weltkrieg unvorstellbare Leistungen ab. Das Sanitätswesen der k. u. k. Armee war auf diese Herausforderungen nicht ausgerichtet, es fehlte an Personal und Material. Daher war man auf Krankenschwestern aus dem zivilen Bereich angewiesen. Diese kamen selbst an vorderster Front zum Einsatz, waren jedoch nicht die einzigen Frauen, die in der k. u. k. Armee Dienst versahen. Als der Soldatenmangel ab 1917 immer deutlicher zu spüren war, rekrutierte man bis zu 50.000 „weibliche Hilfskräfte für die Armee im Feld“. Sie wurden meist im Hinterland bzw. an der Heimatfront eingesetzt. Nicht so Kolbinger.

Fronteinsatz, um heiraten zu dürfen

Die bildhübsche Kolbinger, der die Männerwelt zu Füßen lag, verlobte sich 1908 mit einem Offizier, musste aber, um ihn heiraten zu dürfen, eine beträchtliche Kaution zahlen. Eine solche Kaution konnte von einem der Ehepartner, von ihnen gemeinsam oder auch von einer dritten Person hinterlegt werden. Kolbingers zukünftiger Mann wollte sich offenbar nicht daran beteiligen. Das stellte die vermögenslose junge Frau jedoch vor ein großes Problem. Daher versuchte sie im Jahre 1914 ihre Bekanntschaft zu Erzherzog Karl auszunutzen und eine Befreiung von der Kaution zu erwirken. Erzherzog Karl stellte allerdings eine harte Bedingung: Wenn Kolbinger bereit wäre, als Krankenschwester Dienst im Ersten Weltkrieg zu leisten, würde ihr diese erlassen werden. Doch für Kolbinger war das Sanitätswesen nicht das Richtige, sie sah sich – entgegen allen Warnungen ihrer Mutter – eher in der Position einer kämpferischen Frontsoldatin, zumal sie eine glänzende Reiterin war. Da kam ihr der irrtümlich zugestellte Einberufungsbefehl ihres toten Bruders zu Hilfe. Mit diesem meldete sie sich als Mann verkleidet zu Kriegsbeginn an die Front. Allerdings gab sie später selbst zu, dass sie sich das Frontleben weit weniger gefährlich vorgestellt hatte. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs kam Kolbinger als Meldereiterin nach Czortków (ukrainisch Tschortkiw) in Galizien. Bereits in der Schlacht von Lemberg Ende August, Anfang September 1914 wurde sie im Nahkampf durch einen Messerstich im Rücken verwundet und geriet in russische Kriegsgefangenschaft. Klarerweise erkannte der behandelnde Arzt Kolbingers wahre Identität, bewahrte aber offensichtlich Stillschweigen. 1915 gelang dem preußischen General der Kavallerie August von Mackensen die Rückeroberung Lembergs. Nach ihrer Befreiung aus der Kriegsgefangenschaft diente Kolbinger in der Heeresgruppe Mackensen als Meldereiterin und Kurierin und brachte es bis zum Rang eines Fähnrichs. Im Verlauf des Krieges wurde sie dann ein weiteres Mal durch einen Gewehrschuss in ein Bein verwundet und kam erneut in Gefangenschaft, diesmal in Rumänien. Das Schrapnell, das damals im Bein steckenblieb und einwuchs, wurde erst viele Jahre später im Rahmen eines Kuraufenthalts entdeckt und in weiterer Folge operativ entfernt.

Für ihren Einsatz erhielt Kolbinger einige Auszeichnungen, unter anderem 1916 das Ehrenzeichen II. Klasse vom Roten Kreuz mit der Kriegsdekoration.

Von der Soldatin zur Fabrikantensgattin

1919 gelang Kolbinger als Krankenschwester getarnt die Flucht aus der rumänischen Kriegsgefangenschaft, und sie durfte nach Wien zurückkehren. Hier verweigerte sie die Eheschließung, für die sie so hart an der Front hatte kämpfen müssen. Ihr Verlobter war nach dem Krieg arbeitslos geworden und wollte sich von seiner zukünftigen Frau erhalten lassen. Kolbinger sollte wieder singen, und er war bereit, sie zu managen. Das lehnte Kolbinger ab. Doch das Glück sollte bald wieder auf ihrer Seite sein: In einem Soldatencafé lernte sie den um viele Jahre älteren jüdischen Kaufmann Siegfried Wolkenstein (geb. Wien, 31. 8. 1872), den Gründer der Steinnuss- und Hornknopffabrik & Co. im oberösterreichischen Wimsbach bei Lambach (heute Gemeinde Bad Wimsbach-Neydharting), kennen. Am 12. März 1920 feierten sie standesamtliche Hochzeit in Kolbingers Heimatstadt. Nur ein Jahr später kam Tochter Hildegard zur Welt. Alles schien nun in bester Ordnung, doch das Leben der Fabrikantensgattin und kriegserfahrenen Großstädterin in dem kleinen oberösterreichischen Dorf entpuppte sich als gar nicht so einfach. Wolkenstein wurde aufgrund ihrer nur standesamtlichen Eheschließung – und noch dazu mit einem Juden – vom Ortspfarrer von den kirchlichen Handlungen wie der Heiligen Kommunion ausgeschlossen. Sie galt jedoch schon immer als zielstrebig und erreichte, wofür sie kämpfte. Also erwirkte sie beim Bischof eine Dispens, um ihren jüdischen Mann auch kirchlich heiraten zu dürfen. Am 7. Mai 1923 erfolgte schließlich die kirchliche Trauung in ihrem damaligen Wohnort, wobei der Pfarrer sogar ihrem Verlangen nach einer öffentlichen Entschuldigung für die Ausgrenzung nachkam. 1927 trat Siegfried Wolkenstein aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus.

Die ehemalige Frontsoldatin als Retterin in der NS-Zeit

Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland wurde die Familie sofort observiert. Insbesondere der Welser Bürgermeister Leo Sturma, ein glühender Anhänger des NS-Regimes, ließ die Wolkensteins von der örtlichen Gendarmerie regelmäßig ausspionieren. Letztlich wurde die Familie behördlich gezwungen, nach Wien umzusiedeln, wo sie eine bescheidene Wohnung zugeteilt bekam. Die Knopffabrik von Siegfried Wolkenstein wurde „arisiert“, Tochter Hildegard als „Mischling I. Grades“ das Studium der Medizin verwehrt. Wolkenstein stellte sogar einen Antrag auf Gleichstellung ihrer Tochter mit jüdischen Mischlingen zweiten Grades. Doch dieser wurde vom Reichsstatthalter in Wien abgelehnt. Hildegard absolvierte schließlich eine Lehre für Kosmetik.

Die Familie stand vor dem Nichts und Siegfried Wolkenstein war zu diesem Zeitpunkt bereits schwer herzkrank. Wolkenstein begann nun einen intensiven Kampf, um das Leben ihrer Familie zu retten und ihren Mann sowie ihre Tochter vor der drohenden Deportation zu schützen. Dabei berief sie sich auf ihren Fronteinsatz bei August von Mackensen, der mittlerweile zu einem prominenten NS-Propagandisten avanciert war, und kolportierte, dass sie als einzige Frau 1916 von ihm persönlich das Ehrenkreuz II. Klasse für ihre Verdienste im Ersten Weltkrieg erhalten hatte. Darüber hinaus sammelte Wolkenstein in der Uniform des NS-Reichskriegerbunds Spenden und engagierte sich in der Kriegsversehrtenfürsorge. Obwohl sie nie Parteimitglied wurde, trug sie bei offiziellen Anlässen ein Parteiabzeichen, das sie von Bekannten geschenkt bekommen hatte. Ihre Bemühungen wurden insofern belohnt, als Siegfried Wolkenstein beispielsweise nach Erzählung seiner Ehefrau keinen Judenstern tragen musste und somit nicht sichtbar als Jude gekennzeichnet war. Im Gegensatz zu seiner Familie, die im KZ umgekommen war, konnte er die NS-Zeit überleben. Nach Siegfrieds Tod am 12. August 1951 lebte Wolkenstein zurückgezogen in bescheidenen Verhältnissen im Haushalt ihrer Tochter. Sie starb am 30. August 1983 in Wien.


Literatur: Grazer Volksblatt, 6. 10. 1909, S. 10; Neues Österreich, 15. 8. 1951, S. 10; Als eine Frau Soldat wurde, topos.orf.at/Soldatin_im_Ersten_Weltkrieg100; data.matricula-online.eu/de/oesterreich/oberoesterreich/bad-wimsbach-neydharting/207%252F1923/; data.matricula-online.eu/de/oesterreich/wien/16-altottakring/01-32/; www.mediathek.at/katalogsuche/suche/detail/ (ab Minute 17,15); Oberösterreichisches Landesarchiv, Arisierungsakten, Wolkenstein, Abteilung IVcW, Aktenteil 42891; Mitteilung Dr. Doris Kerö, Bruckneudorf, Burgenland.

(Daniela Angetter-Pfeiffer)

Wir danken Dr. Doris Kerö für die Zurverfügungstellung von Bildmaterial und Dokumenten aus dem Familienbesitz.