Ellen Müller-Preis – Österreichs unangefochtene Meisterin des Degens

Am 26. Juli 2024 starten in Paris die 33. Olympischen Spiele der Neuzeit. Österreich nimmt zum 29. Mal an einem solchen Großereignis teil. Die bislang einzige Goldmedaille im Florettfechten für Österreich gewann 1932 Ellen Müller-Preis. Die Fechtmeisterin arbeitete nach ihrer Sportlerkarriere aber auch erfolgreich als Lehrerin und Trainerin an Schulen, in Vereinen, am Max Reinhardt Seminar, an der Wiener Staatsoper und am Burgtheater ebenso wie als Universitätsprofessorin an der damaligen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien.

Von Berlin über Wien zur „Doyenne des österreichischen Sommersports“

Ellen Sigurd Hildegard Müller-Preis, geb. Preis, kam am 6. Mai 1912 in Berlin-Charlottenburg als Tochter eines aus der Steiermark stammenden hochrangigen Offiziers bei Kaiser Wilhelm II. und der aus einem begüterten Haus im Rheinland stammenden Margarete Preis (geb. 15. Jänner 1893; gest. 1. Juni 1968) zur Welt und wurde im evangelischen Glauben AB erzogen. 1939 heiratete sie den zunächst in Schwarzach-St. Veit und dann im Wiener Wilhelminenspital praktizierenden Facharzt Dr. Heinrich Müller (geb. 18. März 1911; gest. 1989), einen bekennenden Nationalsozialisten, der ab 1944 in der Waffen-SS als Mediziner tätig war. 1940 wurde ihr Sohn, der spätere Akademiker Heinz Michael (geb. 17. Jänner 1940), geboren. Zwei Jahre später folgte Herwig Wolf (geb. 28. März 1942; gest. 19. März 2021) und 1944 ihre Tochter Dagmar, die jedoch nur wenige Monate überlebte. Seit Anfang der 1950er-Jahre lebte das Ehepaar getrennt.

Schon Müller-Preisʼ Jugend war neben der Gymnasialausbildung (Abitur 1929 in Berlin-Charlottenburg) geprägt von großem Interesse an Sport. So standen vor allem Schwimmen, Rudern und Leichtathletik auf dem Programm. Zum Fechtsport kam sie durch ihre Tante, Wilhelmine (Minna) Werdnik, die in erster Ehe mit dem Militärfechter Michael Neralić (geb. Slunj, Kroatien, 26. Februar 1875; gest. Wien, 17. Februar 1918), der bei den Olympischen Spielen in Paris 1900 im Säbelfechten die Bronzemedaille gewann, verheiratet war, und die nach dessen Tod eine zweite Ehe mit dem Universitätsfechtmeister und damaligen Klubmeister des Wiener Residenz-Fechtklubs Martin Werdnik einging. Minna Werdnik war selbst Fechtmeisterin und führte den sogenannten Fechtsaal Werdnik, eine der angesehensten Fechtschulen Wiens.

Gegen den Willen ihrer Mutter, die Fechten für einen unschicklichen Sport hielt, zog Müller-Preis laut ihrem Personalakt im Herbst 1929 nach Wien und stieg beim Fechttraining im Verein ihrer Tante ein. Schon nach einem halben Jahr intensiven Trainings erhielt sie die Erlaubnis zur Teilnahme an der österreichischen Meisterschaft und erkämpfte sich als 16-Jährige den stolzen Titel „Meisterfechterin von Österreich“. In der Folge begann Minna Werdnik, ihre Nichte für internationale Kämpfe vorzubereiten. 1931 trat Müller-Preis zum ersten Mal international in Erscheinung. Bei der Heim-Europameisterschaft in Wien, welche vom 26. Mai bis zum 4. Juni im Großen Saal des Wiener Konzerthauses stattfand, erreichte sie hinter der Deutschen Helene Mayer und der Ungarin Erna Bogen den 3. Platz. Nach ihren Erfolgen bewarb sich Müller-Preis beim Deutschen Fechtverband für die Teilnahme an den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles, wurde jedoch abgelehnt. Ihre Doppelstaatsbürgerschaft ermöglichte es ihr allerdings, auch beim österreichischen Verband anzufragen, der sie schließlich aufnahm. Richard Brünner, der Präsident des Österreichischen Fechterverbands, unterstützte ihr Anliegen und trat beim Hauptverband für Körpersport, Olympisches Komitee für Österreich, für ihre Entsendung ein. Auch der bekannte italienische Fechtmeister Giuseppe Luigi Barbasetti, den sie während eines internationalen Turniers in Paris 1932 kennengelernt hatte, erkannte ihr Talent und ihren Fleiß und ermutigte sie in einem persönlichen Gespräch „nur weiter so arbeiten, dann werden Sie weiter siegen, auch in Los Angeles“.

1932 trat Müller-Preis unter der Leitung von Kommerzialrat Dr. Theodor Schmidt, Präsident des Hauptverbandes für Körpersport, Olympisches Komitee für Österreich, sowie Prinz Ferdinand von und zu Liechtenstein, mit finanzieller Unterstützung einer Baronin Rothschild bei den Olympischen Spielen in Los Angeles an, besiegte im Semifinale Helene Mayer, die deutsche Olympiasiegerin von 1928, und schließlich im Finale die Engländerin Judy Guinness Penn-Hughes und „vergoldete“ sich damit ihren Fechttraum. „Meine Ellen Olympiasiegerin, das ist die Krönung meines Lebens!“, reagierte Minna Werdnik. Bis heute ist Müller-Preisʼ Name im Los Angeles Memorial Coliseum eingraviert, bis heute ist dieser Sieg die einzige olympische Goldmedaille im Fechten für Österreich. Es folgten Olympia-Bronze 1936 in Berlin und 1948 in London sowie drei WM-Titel: 1947 in Lissabon, 1949 in Kairo und 1950 in Monaco. Ihre insgesamt fünf Teilnahmen bei Olympischen Spielen sind im österreichischen Frauensport nur von der Tischtennisspielerin Liu Jia übertroffen, noch 1956 kam Müller-Preis in Melbourne im Alter von 44 Jahren ins Finale und belegte den 7. Platz. Ihre Bilderbuch-Karriere krönte sie weiters mit Bronzemedaillen bei den Europameisterschaften 1931 in Wien und 1936 im Mannschaftsbewerb in San Remo mit Grete Friedmann, Elisabeth Grasser, Frieda von Gregurich und Fritzi Wenisch, mit Silbermedaillen 1932 in Kopenhagen im Mannschaftsbewerb mit demselben Team und 1935 in Lousanne im Einzelbewerb sowie im Mannschaftsbewerb mit Grasser, Hilde Misof, Gregurich und Wenisch. Bei den beiden Weltmeisterschaften in Paris errang sie jeweils die Bronzemedaille: 1937 im Einzel sowie 1957 im Mannschaftsbewerb mit Traudl Ebert, Maria Grötzer, Helga Gnauer, Luise Gruß und Helga Katlein. Bei Österreichischen Meisterschaften und Bereichsmeisterschaften konnte sie von 1929 bis 1962 im Damenflorett-Einzel insgesamt 21 nationale Meistertitel erobern.

Erst 1963 schied sie verletzungsbedingt aus dem aktiven Wettkampfsport aus. Bereits 1936 hatte sie Erinnerungen an die Anfänge ihrer sportlichen Karriere bis zum Jahr 1932 unter dem Titel „Olympiasieg“ veröffentlicht.

In der Zeit des Nationalsozialismus übernahm Müller-Preis die Funktion als Fechtfachwartin des Bund Deutscher Mädchens des Obergaus Wien, dessen Fechtausbildung sie mit ihrer Tante leitete. Weiters war sie als Jurorin bei Fechtveranstaltungen aktiv und trat selbst bei Wettkämpfen wie der Deutschen Meisterschaft 1939 an. Müller-Preis focht von 1939 bis 1944 unter dem zusammengelegten Fechtverein FK Union-Rodenstein. Trotz ihrer Tätigkeit als Fechtfachwartin beim BDM und ihrer Teilnahme an Wettkämpfen wurde sie nie Mitglied der NSDAP; eine angestrebte Mitgliedschaft wurde abgelehnt.

„Sport als Kunst“ – das Lebenscredo

Nach ihrem Olympiasieg 1932 absolvierte Müller-Preis eine Ausbildung zur Sportlehrerin. 1933 besuchte sie einen Kurs über Allgemeine Pädagogik an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien, erweiterte daneben im Privatunterricht ihre Kenntnisse in englischer und französischer Sprache und war 1934–1935 an der Hochschule für Leibesübungen auf dem Reichssportfeld in Berlin-Charlottenburg inskribiert. Nach Ablegung der Lehrbefähigungsprüfung 1934 vor dem Stadtschulrat in Wien über Gymnastik und Akrobatik war sie 1936–1938 für die Gemeinde Wien tätig. Diesen Dienst quittierte sie freiwillig aufgrund ihrer bevorstehenden Eheschließung. 1943–1945 unterrichtete sie Fechten an der Lehrerinnenbildungsanstalt Hegelgasse im 1. Wiener Gemeindebezirk. Daneben arbeitete sie als Trainerin von Fechttalenten in Mödling sowie in Wiener Neustadt, war als Funktionärin beim Allgemeinen Sportverband Österreichs und Wien tätig, führte viele Aktive zu internationaler Klasse, war versiert in Akrobatik sowie in Yoga und absolvierte eine Gesangsausbildung.

Die Fechterin kooperierte damals mit verschiedenen Wiener Theaterhäusern wie dem Burgtheater und der Wiener Staatsoper und war für die Gestaltung und das Einstudieren von Fecht- und Kampfszenen verantwortlich. Aber auch Theaterinszenierungen und Fechtszenen bei den Salzburger Festspielen trugen ihre Handschrift. 1949 holte sie Burgtheater-Regisseur Adolf Rott, um statt eines erkrankten Mimen in „Cyrano von Bergerac“ den Grafen Valvert zu spielen.

Ihr Können als Fechtmeisterin sowie ihre Kenntnisse in Atem- und Stimmführung gab die leidenschaftliche Pädagogin ab 1946 als Lehrerin für Bewegungslehre und Fechten am Konservatorium der Stadt Wien weiter. Ab 1950 lehrte sie an der Akademie für Musik und darstellende Kunst im Bereich Bewegungslehre sowie Atemtechnik im Bühnenfechten. Ende November 1969 wurde sie zum außerordentlichen Professor und Mitte Dezember 1976 zum ordentlichen Professor für Bühnenfechten und Waffenkunde an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien ernannt. 1982 wurde sie emeritiert.

Max Reinhardts Ehefrau, Helene Thimig, brachte Müller-Preis an das Max Reinhard Seminar, wo sie als Dozentin von 1950 bis 1982 zahlreiche Student:innen der Schauspiel- und Opernklassen in Bühnenfechten, Körperschulung und Atemtechnik unterrichtete. Ein Lehrfach, wo sie selbst einiges dazulernen musste, denn sie hatte neben Degen, Säbel und Florett, auch den Umgang mit Dolch, Hellebarde, Lanze, Schwert und Beil zu vermitteln. Mit großer Erfahrung und pädagogischem Gespür führte sie viele bekannte Persönlichkeiten der Theater-, Kunst- und Kulturszene, unter anderem die Regisseure Franz Antel, Giorgio Strehler, Leopold Lindtberg und Franco Zefirelli, den Opernsänger Placido Domingo, die Dirigenten Leonard Bernstein und Herbert von Karajan, die Schauspieler:innen Ewald Balser, O. W. Fischer, Erik Frey, Michael Heltau, Gertraud Jesserer, Helmut Lohner, Erika Pluhar, Walter Reyer, Otto Schenk, Albin Skoda und Oskar Werner sowie Sänger und Künstleragent Ioan Holender, in die Fechtkunst ein.

National und international hielt Müller-Preis Vorträge und Kurse und befasste sich darüber hinaus mit der Kulturgeschichte des Fechtens. Ab 1966 galt ihr Interesse insbesondere der Fechtkunst mit alten Waffen. Dabei war ihr vor allem die „Dreieinigkeit von Körper, Atmung und Ton“ wichtig. Aber sie kämpfte auch für Ehrlichkeit und Fairness im Sport. „Mens sana in corpore sano“, das war ihre Lebensphilosophie und zeichnete Ellen Müller-Preis aus. „Ich schätze jene Menschen, die ohne Falschheit, ohne falsche Mitteln einzusetzen, gewinnen. Man sollte lieber verlieren, als unfair zu sein. Es geht um das faire Handeln des Menschen“, so ihre eindringlichen Worte.

Müller-Preis erhielt unter anderem 1932 die Goldene Medaille für Verdienste um die Republik Österreich, 1937 den Ehrenpreis des Bundesministeriums für Handel und Verkehr, 1950 das Sportehrenzeichen der Stadt Wien, 1957 das Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich sowie die Ehrennadel in Gold des Allgemeinen Sportverbands Österreichs, 1962 den ÖOC-Jubiläums-Preis 1961, 1968 das österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, 1972 die Ehrennadel in Gold des Allgemeinen Sportverbands Österreichs, Wien, 1975 das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien, die Goldene Ehrennadel für ihre 25-jährige Tätigkeit als Sportlehrerin im Österreichischen Sportlehrer-Verband sowie den Olympischen Orden des Internationalen Olympischen Komitees in Bronze und 1982 das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. 1954 wurde sie zum Ehrenmitglied des Union Fechtclubs Wien gewählt und 1994 bekam sie die Ehrenurkunde des Österreichischen Gewerkschaftsbunds für ihre 40-jährige Mitgliedschaft bei der Gewerkschaft Kunst, Medien, freie Berufe, Sektion Musiker. 1949 wurde sie als Österreichs erste Sportlerin des Jahres ausgezeichnet, der Titel Sportler des Jahres ging an den Radrennfahrer Richard Menapace.

Ellen Müller-Preis starb am 18. November 2007 im Krankenhaus Lainz in Wien. Ihr Grab befindet sich auf dem Zentralfriedhof. Zu Ehren ihrer sportlichen Erfolge und ihrer eindrucksvollen künstlerischen Lehrtätigkeiten hielten Leo Wallner, Präsident des Österreichischen Olympischen Comités, sowie Erika Pluhar im Zuge der Trauerfeier am 29. November 2007 eine Rede. Ihr Nachlass befindet sich in der Wienbibliothek im Rathaus.


Weitere Werke: Wie ich Olympiasiegerin wurde, in: Körpersport-Jahrbuch 2, 1933, S. 69-71.


Literatur: Die Presse, 14./15. 7. 1984; Der Standard, 20. 12. 2007; Körpersport-Jahrbuch 1-3, 1932-34, 5-6, 1936-37; Sportjahrbuch 4, 1935; Österreichisches Sportjahrbuch, 1948-49; Prof. Ellen Müller-Preis: 34 Jahre auf der Fechtplanche, in: Norbert Adam, Österreichs Sportidole. Olympiasieger, Weltmeister, Europameister von Wilhelm Steinitz bis Peter Steinacher, 1984, S. 76f.; Michael Wenusch, Geschichte des Wiener Fechtsports im 19. und 20. Jahrhundert, 1996; Michael Wenusch, Engarde, Parade, Touché. Die Entwicklung des Wiener Fechtsports, 1998, S. 14; Josef Metzger, Ellen-Müller-Preis. Eine Frau von Welt, in: Helden und Idole. Sportstars in Österreich, ed. Matthias Marschik - Georg Spitaler, 2006, S. 182-185; Ellen Müller-Preis, in: Leo Strasser - Maximilian Lakitsch, Olympische Abenteuer. Geschichte und Geschichten (von Athen 1896 bis Peking 2008), 2008, S. 32-35; Monika Salzer - Peter Karner, Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien, 2. Aufl. 2009, S. 114f.; Johannes Hochsteger, Biographische Studie zu österreichischen Sportidolen von 1933-1945, rer. nat. DA Wien, 2014, S. 43-53, 178-185 (mit Bild); Müller-Preis, Ellen, in: biografiA. Lexikon österreichischer Frauen 2, ed. Ilse Korotin, 2016; Objekt des Monats August 2016: Gold für Österreich! Mit Ellen Müller-Preis bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles, www.wienbibliothek.at/besuchen-entdecken/blog/objekt-monats/objekt-monats-august-2016-gold-oesterreich-ellen-mueller-preis-olympischen-spielen-1932-los-angeles (Zugriff 23. 5. 2024, mit Bild); Ellen Müller-Preis, museum.evang.at/persoenlichkeiten/ellen-mueller-preis/ (Zugriff 23. 5. 2024); Ellen Preis – Grand Dame des Fechtsports, www.olympia.at/museum/main.asp (Zugriff 23. 5. 2024, mit Bild); Ellen Müller-Preis ist tot, web.archive.org/web/20071121045215/http://www.kurier.at/sport/weiteresportarten/121989.php (Zugriff 23. 5. 2024); Wien Geschichte Wiki (Zugriff 23. 5. 2024); Personalakt, Archiv der Universität für Musik und darstellende Kunst, Wien.

(Michael Wenzel)

Wir danken der Östereichischen Nationalbibliothek und dem Sportfotografen Kristian Bissuti für die Zuverfügungstellung von Bildmaterial.