02.08.2024

Sounds & Sights of Science #32

„… NICHT NUR NOTEN“: EIN LIED AUS STINATZ, 1965 – vorgestellt von Christiane Fennesz-Juhasz

WAS IST ZU HÖREN?

Familie Sifkovits singt „Čuda je rastićev …“, ein Lied über in der Ferne gefallene Soldaten. Die Tonaufnahme (B 9722) macht Károly Gaál im südburgenländischen Stinatz im Feber 1965 – vielleicht an einem Wochenendabend, zu dem Andreas Sifkovits und seine Frau Maria mit ihren erwachsenen Kindern Johann und Anna (verh. Schramek) üblicherweise zusammenkommen. Während eines sechswöchigen Feldforschungsaufenthalts ist auch der Volkskundler des Öfteren bei solchen Familientreffen dabei. Es wird „musiziert, gesungen und erzählt“, ist doch der Vater ein im Dorf beliebter Musikant, die Mutter eine gute Sängerin, und trägt die Tochter gern mit Geschichten zur Unterhaltung bei (Gaál 1983).

 

WAS IST DARAN BESONDERS INTERESSANT?

Wie in Stinatz 1964/65 hat Károly Gaál (1922–2007, später Ordinarius am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien) ab 1961 auch in einigen anderen südburgenländischen Orten „dorfmonographische“ Forschungen durchgeführt. Er gehört zu einer Reihe von Forscher/innen, die zu dieser Zeit neben gängigen ethnographischen Methoden intensiv die Tonaufnahme nutzen und deshalb über Jahre mit dem Phonogrammarchiv kooperieren. Bei seinen Erhebungen ist er bestrebt, die Alltagskultur eines Ortes aktuell und in ihrer historischen Entwicklung insgesamt zu erfassen; so geht es ihm nicht um „das äußere Erscheinungsbild von einzelnen Kulturelementen, sondern um ihre Funktion und ihr kausalbedingtes Zusammenwirken zum kulturellen Ganzen, kurz: um die Kulturökologie“ (Gaál 1983). Dementsprechend besteht für den Forscher auch „… das Liedgut nicht nur aus Noten“. Wie beim Erzählen sind Anlass, Kommunikationssituation und Platz von Sänger/in und Lied in einer Gemeinschaft ebenso relevant wie das Gesungene (Gaál 1975). Dieser „sozialethnologische“ Ansatz birgt auch nachhaltig Anregungen für die zeitgenössische Volksmusikforschung. Bis Anfang der 1970er-Jahre dokumentiert Gaál im Burgenland diverse Arten von Erzählungen, Liedern und Musik (auch bei alltäglichen Unterhaltungen), aber auch jahres- und lebenszyklische Bräuche und Riten, Gespräche und Interviews – all das in der lokal üblichen Umgangssprache, sei es Ungarisch (z.B. in Unterwart, Siget in der Wart und im Schachendorfer Meierhof), Deutsch (z.B. in Wolfau) oder eben der kroatische Dialekt von Stinatz.

 

WIE BESCHÄFTIGE ICH MICH DAMIT?

Auf diese Tonaufnahmen greifen heute gerade Angehörige von burgenländischen Volksgruppen bei ihren Aktivitäten zu Stärkung und Erhalt ihrer Sprachen und kulturellen Ausdrucksformen zurück und weisen damit den aufgezeichneten Inhalten neue Funktionen zu. So erarbeitet die Musikgruppe Csörge (Oberwart) derzeit ungarische Lieder aus Gaáls Sammlung. Mit dem Virtualni Arhiv Stinjaki macht die Kulturinitiative Stinatz Materialien zu Geschichte, Kulturerbe und Sprache des Ortes digital zugänglich. Hier finden sich auch von Károly Gaál aufgezeichnete Lieder sowie weitere Aufnahmen aus unserem Archiv, z.B. solche der Slawist/innen Helene Koschat (aus 1970) und Gerhard Neweklowsky (aus 1975). Zu meinen Aufgaben gehört es, diese Quellen samt Begleitdokumentation verfügbar zu machen.


Christiane Fennesz-Juhasz ist Ethnomusikologin und am Phonogrammarchiv zuständig für Musikbestände und Aufnahmen zur Kultur von europäischen Minderheiten.

 

Literatur (Auswahl):

Gaál, Károly: Spinnstubenlieder. Lieder der Frauengemeinschaften in den magyarischen Sprachinseln im Burgenland. München, 1966.
Gaál, Károly: Die soziale Lage und das Lied. In: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 24, Wien 1975, S.70-86.
Gaál, Károly / Neweklowsky, Gerhard (Hg.): Erzählgut der Kroaten aus Stinatz im südlichen Burgenland. Wien 1983.
Neweklowsky, Gerhard / Gaál, Károly (Hg.): Totenklage und Erzählkultur in Stinatz im südlichen Burgenland. Wien 1987.