27.07.2022

SONIME SOMMERWORKSHOP MIT DEM WISSENSCHAFTLICHEN FACHBEIRAT

In einem zwei-tägigen Workshop traf sich das Projektteam SONIME mit dem internationalen Fachbeirat zum intensiven wissenschaftlichen Austausch

Katrin Abromeit, Eva Hallama, Johann Hinterstoisser und Mariken Egger. Foto: Liisa Hättasch, Österreichische Mediathek

Nach mehreren Online-Treffen war der Sommerworkshop des Forschungsprojekts Sonic Memories – Audio Letters in Times of Migration and Mobility am 7. und 8. Juli in Wien das erste physische Treffen des Projektteams mit den Expert:innen aus der Migrationsforschung, Zeitgeschichte, Medienwissenschaften und Konservierung/Restaurierung.

Als Einstieg in den Workshop gaben Projektleiterinnen Eva Hallama und Katrin Abromeit sowie Studienassistent Johann Hinterstoisser Einblicke in ihr laufendes Projekt SONIME. Auf eine kurze Geschichte des sprechenden Briefes am Beispiel von Hörbriefen aus dem Phonogrammarchiv und der Österreichischen Mediathek folgten Diskussionen der Forschungsfragen des Projektes: Können Audiobriefe als „Erinnerungsobjekte“ im Kontext von Migration, Getrenntheit und geographischer Distanz gefasst werden? Wie wird durch das Sprechen und Hören von Briefen - und durch die konservierte Stimme - Nähe hergestellt und Beziehungen aufrechterhalten? Wie Eva Hallama betonte, hebt der Begriff der Erinnerungsobjekte die Materialität der Briefe und den Prozess des Substituierens von Vermisstem hervor. Daran anknüpfend stellte sie eine psychoanalytische Perspektive auf die Stimme als frühestes „Klangobjekt“ vor, das schon dem Fötus Erfahrungen von Abwesenheit und Verlust und einer Ahnung des „Anderen“ gibt (Maiello). Damit wäre die Praxis des Briefe-Sprechens und -Hörens eine, die sich (vor allem) der Existenz des Anderen versichert, wie die Stimme die einzige Zeugin ist, dass der Andere tatsächlich existiert und nicht nur eine Illusion ist (Lacan).

In den zweiten Fragenkomplex um den Begriff der „material culture“ führte Katrin Abromeit ein: Wie hat die zur Verfügung stehende Technik die Praxis des Audiobriefes geformt und beeinflusst und was erzählen uns Materialkompositionen über die historische Bedeutung und Verwendung der Audiobriefe als akustisches Kulturerbe? Katrin Abromeit veranschaulichte u.a. am Beispiel von durch das Mikroskop vergrößerten Rillen, wie sehr sich das Schnittbild von Tonaufzeichnungen auf Platte voneinander unterscheiden konnte und was uns das über den Produktionskontext sagt. Und sie illustrierte anhand von unterschiedlichen Schadensbildern bei Direktschnittplatten die Vielschichtigkeit der Restaurierungsarbeiten. Johann Hinterstoisser präsentierte das durchzuführende FT-IR-Verfahren zur Materialanalyse, mit dem das Material der Tonträger identifiziert werden kann. Das ist Voraussetzung für die Entwicklung von Reinigungs- und Restaurierungsabläufen sowie das Bestimmen der besten Bedingungen für die Langzeitarchivierung.

Herzstück des Workshops waren dann mehrere Close Listening-Sessions, in denen gemeinsam frühe Audiobriefe in verschiedenen Sprachen zwischen 1907 bis 1971 angehört wurden, die in beiden Archiven von Tonwalzen und Direktschnittplatte, Tonbändern und Kompaktkassetten überliefert sind. Das kollektive Hören und das Assoziieren über das Gehörte ermöglichte multiperspektivische Betrachtungen, die beispielsweise medienhistorische, kulturelle oder technische Facetten der Aufnahmen sichtbar und hörbar machten. Aspekte wie Privatheit/Öffentlichkeit der Aufnahmen, Zensur, Selbstzensur und Kodierungen, die Kontextualisierung der Aufnahmesituation mithilfe oder in Unkenntnis von Metadaten wurden gehört und diskutiert. Nicht-inhaltliche Aspekte der Stimme, wie Sprechmodi, Pausen und auch die Gestaltung der Aufnahme mit Musik, Gesang etc. wurden thematisiert. Der Charakter von Migration im Vergleich zu anderen Formen von Mobilität wurde relevant, ebenso die Herausforderung, Medien von dezentralen, marginalisierten Gruppen zu sammeln.

Auch Unterschiede zwischen den Möglichkeiten der Aufnahmesysteme und -medien waren hörbar. Im Vergleich zu den frühen Aufnahmen wurde beispielsweise deutlich, inwiefern die modernere Technik - insbesondere durch die Aufnahmequalität, die einfachere Bedienbarkeit und die lange Aufzeichnungsdauer der Kompaktkassette - die (Selbst-)Darstellung des Alltaglebens von Personen beeinflusste, und inwiefern Nähe und Privatheit viel unmittelbarer schien. Hier bot sich der Vergleich zu anderen modernen Techniken und ihren Nutzungspraxen wie Telefonie, Nachrichten auf Anrufbeantwortern und modernen Sprachnachrichten an.

Besonders deutlich wurde anhand dieser Beispiele einmal mehr die Frage: Was ist ein Audiobrief? Wie kann er definiert und charakterisiert und auch von anderen Privataufnahme-Praktiken unterschieden werden, und welche formalen Eigenschaften teilen sich Audiobriefe?

Zwei Führungen durch die beiden Host-Institutionen durch Christian Liebl (Phonogrammarchiv) und Johannes Kapeller (Österreichische Mediathek) rundeten den Workshop ab. Hier wurden die Entstehungsgeschichten, die Magazin- und Nutzungsräume, die heutigen Digitalisierungstechniken und die historischen Sammlungsstrategien der beiden Audioarchive vorgestellt, die entscheidend dazu beigetragen haben, ob sich Privatdokumente in beiden Archiven befinden, und welche Audiobriefe sich heute hier finden lassen, und welche nicht. Zudem wurden einige der in beiden Archiven identifizierten Audiobriefe gemeinsam angeschaut.

Angeregt und ausgestattet mit zahlreichen Hinweisen danken die Projektleiterinnen ihren Kolleg:innen beider Gastinstitutionen für ihr Mitwirken, insbesondere Christian Liebl und Johannes Kapeller, den studentischen Assistent:innen Mariken Egger und Johann Hinterstoisser und den Leiterinnen der beiden Host-Institutionen Gabriele Fröschl und Kerstin Klenke sowie den Mitgliedern unseres geschätzten Fachbeirats Nadia al-Bagdadi, Federica Bressan, Gerhild Perl, Thomas Levin, Dirk Rupnow und Stephan Puille für ihre konstruktiven Beiträge!