19.08.2024

„DER GROSSE, BLONDE, MIT DEN GROSSEN FÜSSEN“

Zum 70. Todestag von Rhousos Rhousopoulos, Griechischlehrer der Kaiserin Elisabeth

Am 19. August 1954 verstarb Rhousos Rhousopoulos1 hochbetagt in einem Altersheim seiner Geburtsstadt Athen, wohin er in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie wieder zurückgekehrt war. Mehr als 40 Jahre zuvor, am 9. Jänner 1914, hatte er, damals noch in Budapest, in den Trichter eines Archiv-Phonographen gesprochen ...

1862 in eine kinderreiche Familie geboren,2 schloss Rhousos Rhousopoulos später an der Universität Athen ein Jusstudium ab. Von 1889 bis 1891 und nochmals im Sommer 1893 sollte er dann – nach Ioannis Romanos und Nikolaos (Nikos) Thermojannis – als griechischer Sprachlehrer bzw. Vorleser für Kaiserin Elisabeth wirken und ihr dabei in Wien und Budapest ebenso zu Diensten stehen wie auf ihren ausgedehnten, sie bis nach Nordafrika führenden Reisen. Wie es zu seinem Engagement kam, schilderte er in seiner Rede bei einer Trauerfeier am 24. September 1898 in Budapest, zwei Wochen nach der Ermordung der Kaiserin (Rhoussopoulos 1898):

Die Volkssprache kannte und verstand sie schon anläßlich ihrer ersten Reisen. Sie verlangte aber mehr, sie wollte auch der literarischen Sprache mächtig sein. Dieses Verlangen bewog sie, von einem Berufssprachmeister zu lernen und deshalb betraute sie den Obersthofmeister ihrer erlauchten Tochter, der Erzherzogin Gisela, den Baron Perfall, dessen Gemahlin eine Griechin ist, für einen griechischen Sprachmeister zu sorgen. Auf Empfehlung des Vaters der Baronin ward mir die Auszeichnung zutheil, daß ich im Herbst 1889 vor Ihrer Majestät auf der Insel Korfu erscheinen konnte.

Schon bei ihrer ersten Zusammenkunft an Bord der Yacht Miramar zog Elisabeth den jungen Griechen, der ihr nun also „die Gelehrtensprache beibringen“ sollte, in ihren Bann (Haderer 2021: 122). Er war es auch, der – vielleicht auf Anregung des mit seiner Familie befreundeten Kunstmäzens Nikolaus Dumba – der Kaiserin den Namen „Achilleion“ für ihren Palast auf Korfu vorschlug,3 mit dessen Bau noch im selben Jahr begonnen wurde.

Von 1888 bis zu ihrem Tode 1898 sollte Kaiserin Elisabeth jedenfalls insgesamt zehn griechische Sprachlehrer bzw. Vorleser beschäftigen.4 Sie halfen ihr „beim Erlernen der alt- und neugriechischen Grammatik und Vokabeln“, führten „mit ihr auf Griechisch Konversation“ und mussten zudem „beim Spazieren und auf Reisen Lyrik und Prosa in verschiedenen Fremdsprachen vortragen und mit ihr ausgewählte Werke übersetzen“ (Haderer 2021: 112f.). Bei Rhousopoulos hatte sie schließlich „so gut Griechisch gelernt, daß sie es in Wort und Schrift beherrscht, und zwar sowohl die vom Volk gesprochene Sprache […] als auch die von den Schulen und Behörden geförderte Gelehrtensprache“, und „sogar ohne jede Hilfe ,Hamlet‘, ,König Lear‘ und den ,Sturm‘ von Shakespeare ins Neugriechische übersetzen konnte“ (Holzschuh 1996: 138).

Trotz – oder gerade wegen – dieses erfolgreichen Unterrichts hatte Kaiser Franz Joseph, der im Übrigen den ausgeprägten Philhellenismus seiner Gemahlin nicht teilte, beinahe „an jedem Griechen etwas auszusetzen“ (ibid.: 133). So fand auch Rhousopoulos in den Briefen an Katharina Schratt seinen Niederschlag – als „der Grieche Russopulos, der große, blonde, mit den großen Füßen“, den der Kaiser ansonsten schlicht den „großhaxeten Griechen“ nannte (Bourgoing 1949: 251, 229); in anderen Quellen wird er zudem als „ein eher etwas fahl und struppig aussehender Mann“ von hagerer Gestalt beschrieben (Corti 1934: 440). Dessen ungeachtet kam Rhousopoulos – wie andere seiner Vorgänger bzw. Nachfolger im Amt – dennoch zu Ehren; so schreibt Kaiser Franz Joseph am 4. März 1892, dass Rhousopoulos bei einer Audienz gewesen sei, „um sich für den Orden zu bedanken, welchen ich ihm in Anerkennung seiner Verdienste um die griechische Erziehung der Kaiserin verliehen habe“ (Bourgoing 1949: 251; gemeint ist wohl das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens). Überdies sollte Rhousopoulos später auch die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten und „zum Honorarkonsul an der Griechischen Botschaft in Budapest ernannt“ werden (Haderer 2021: 204).

1891 wurde Rhousopoulos in Budapest auf Empfehlung der Kaiserin auf „den griechischen Lehrstuhl am orientalischen Lehrkurse“ berufen (Rhoussopoulos 1898); es handelt sich dabei um den 1891 gegründeten „Orientalischen Handelslehrkurs“, der 1899 als königlich-ungarische Orientalische Handelsakademie neu etabliert wurde, die ihren Sitz später in der Esterházy utca (Budapest VIII.) fand; als ihr Direktor fungierte der renommierte Turkologe Ignác Kúnos. Rhousopoulos, der praktischerweise in derselben Straße wohnte, lehrte dort bis 1918 die griechische Sprache und scheint zudem im Vorlesungsverzeichnis der Universität Budapest bis zum Sommersemester 1921 als Lektor auf; in jener Zeit verfasste er auch wissenschaftliche Publikationen.5

An der Orientalischen Handelsakademie errichtete Josef Balassa (bzw. Balassa József, 1864–1945), der Begründer der ungarischen Experimentalphonetik, 1913 schließlich ein Phonetisches Laboratorium. Es sollte zunächst vor allem dem praktischen Fremdsprachenunterricht dienen; die Auffassung, dass dabei Tonaufnahmen eine unterstützende Rolle spielen könnten, war damals bereits weit verbreitet. Wohl aus diesem Grunde suchte Balassa noch in jenem Jahr die Kooperation mit dem „Phonogramm-Archiv der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien“. So entstanden zwischen Jänner 1914 und März 1915 in Budapest in drei Etappen 16 Aufnahmen von Sprachen,6 an denen Balassa entweder selbst wissenschaftliches Interesse gehabt haben dürfte (wie etwa Ungarisch und Estnisch) oder die offensichtlich für die Handelsbeziehungen mit den Balkanstaaten und dem Osmanischen Reich bzw. dem „Orient“ von Nutzen waren – wie Türkisch, Serbisch, Rumänisch oder eben Neugriechisch.

Laut Vereinbarung vom 20. Oktober 1913 verpflichtete sich die Orientalische Handelsakademie, „die mit einem ‚Archiv-Phonographen‘ hergestellten und der Konservierung würdigen Phonogramme dem Wiener Phonogramm-Archiv zu schicken, jeder solchen Aufnahme sämtliche in den Archivbüchern vorgesehenen Aufnahmedaten sowie den vollständigen Text beizufügen“. Dementsprechend sorgfältig füllte Balassa „mit Hilfe des Phonographierten“ das Aufnahmeprotokoll zu Phonogramm Ph 2078 aus, von dem hier die ersten 38 Sekunden zu hören und ein Ausschnitt des Protokolls zu sehen sind, das unterhalb des vorgedruckten Kopfes im Freitextfeld neben der Transkription auch eine Umschrift in phonetischem Alphabet enthält.

Rhousos Rhousopoulos liest nun also nach Ansage von Titel und Autor den Beginn des Kapitels „ΔΥΟ ΛΟΓIA“ aus dem Werk Το ταξίδι μου („Meine Reise“) von Ioannis/Giannis Psycharis (auch Jean Psychari/Psichari, 1854–1929), einem griechisch-französischen Philologen und Schriftsteller:7

Bei Το ταξίδι μου – einem einflussreichen Reiseroman aus dem Jahre 1888 – handelt es sich um das erste Prosawerk, das vollständig in einer Form der neugriechischen Volkssprache Dimotiki verfasst wurde. Als ihr radikaler Verfechter wandte sich Psycharis nicht nur gegen jede weitere Verwendung der künstlichen Hoch- bzw. Amtssprache Katharevousa, sondern vertrat u.a. auch nationalistische Auffassungen.8 Dass Rhousopoulos für sein Phonogramm ausgerechnet diesen Autor wählte, dem er überdies 1920 eine Vorlesung an der Budapester Universität widmen sollte, verrät wohl einiges über seine Position in der griechischen Sprachfrage, die während seiner Zeit als Vorleser der Kaiserin vielleicht noch eine andere war. Denn immerhin ist über Rhousopoulos, der ja offensichtlich speziell für den Unterricht der Katharevousa engagiert wurde, Folgendes zu lesen (Kaiser Franz Joseph an Katharina Schratt, 20. November 1889; Bourgoing 1949: 185): „Ihr neuer Professor behauptet, daß Nikos [Nikolaos Thermojannis] ihr ein viel zu ordinäres Griechisch gelehrt habe.“9

Neben den wissenschaftlichen Publikationen und berührenden Schilderungen seiner Begegnungen mit Kaiserin Elisabeth hat Rhousos Rhousopoulos, der zeitlebens unverheiratet und kinderlos blieb, mit diesem Phonogramm der Nachwelt jedenfalls dennoch etwas sehr Persönliches von sich hinterlassen – ein akustisches Zeugnis seiner Stimme.

 

Christian Liebl

 

ANMERKUNGEN

1 Abgesehen von dieser Umschrift, die er selbst für seine Unterschrift in diversen Dokumenten wählte, existiert sein Name noch in anderen Transliterationen: Rhousso(s) Rhoussopoulos, Roussos Roussopoulos, etc.

2 Sein Vater, der aus Westmakedonien stammende Athanasios Rhousopoulos (1823–1898), studierte griechische Literatur und Archäologie, u.a. in Göttingen, wo er seine zukünftige Frau, Louisa Murray, kennenlernte. Später Universitätsprofessor für klassische Archäologie an der Universität Athen, ist Athanasios Rhousopoulos, der auch eine wichtige Rolle in der Gründungsphase des Archäologischen Nationalmuseums in Athen spielte, heute insbesondere als bedeutender, jedoch nicht unumstrittener Sammler und Händler mit Antiken bekannt; im Kunsthistorischen Museum Wien ist ihm eine kleine, aber feine Ausstellung von Angelika Hudler mit dem vielsagenden Titel „Abgestaubt! Der Professor und der Kunsthandel“ gewidmet. Auch Rhousos interessierte sich offensichtlich für griechische Altertümer (bzw. den Handel damit), wie ein Brief von 1892 an den Archäologen Otto Benndorf in Wien nahelegt (Österreichische Nationalbibliothek – Sammlung von Handschriften und alten Drucken: Autogr. 656/53-5 Han.).

Heute wie damals prangt sein Name in griechischen Lettern am Eingangstor zum Palast, der nach langjährigen Verhandlungen, in die u.a. auch Rhousopoulos involviert war, 1907 schließlich von Erzherzogin Gisela an den deutschen Kaiser Wilhelm II. verkauft wurde und in späteren Jahren eine wechselvolle Geschichte erfuhr.

4 Hermann Bahr nannte sie daher in seinem Nachruf „die letzte Griechin“ und konstatierte (Holzschuh 1996: 132): „Zum Wesen der Hellenen hat sie eine unendliche, fast religiöse Zuneigung gehabt.“ In diesem Sinne ließen sich ihre zahlreichen, zwischen 1861 und 1896 unternommenen Reisen nach Griechenland wohl am besten mit einem Zitat aus Goethes Iphigenie auf Tauris übertiteln: „Das Land der Griechen mit der Seele suchend“...

5 So erschien 1900 etwa sein Woerterbuch der neugriechischen und deutschen Sprache mit einem Verzeichnisse griechischer Eigennamen; eine weitere Publikation – eine illustrierte Sammlung griechischer Volksmärchen (Hellász tündér birodalma: Ujgörög népmesék) – entstand später (1924) zusammen mit Ignác Kúnos.

6 Eine Edition dieser und anderer Tonaufnahmen aus Ungarn ist derzeit in Vorbereitung und wird im Rahmen unserer Gesamtausgabe der Historischen Bestände 1899–1950 online publiziert.

7 Abgesehen von der Ansage umfasst der hier präsentierte Ausschnitt den Titel und die ersten sieben Zeilen des auf den Prolog folgenden Kapitels, wie sie etwa in der 2. Auflage des Werkes von 1905 auf Seite 23 gedruckt sind. Das Phonogramm in seiner Gesamtlänge von ca. 1½ Minuten reicht bis Zeile 15 (vgl. das komplette Protokoll mit deutscher Übersetzung).

8 Vgl. z.B. Giannakopoulos (2006: 65):

Für die Entstehung der Demotizismus-Bewegung war diese Schrift von entscheidender Bedeutung: Mit ihr gelang es Psycharis, die sprachliche Problematik und die damit verbundene Forderung einer neusprachlichen Orientierung zur politischen, ja sogar zur nationalen Frage schlechthin zu stilisieren.

Tatsächlich wird dies zu Beginn des Phonogramms ja „geradezu konstitutiv verkündet“ (ibid., Anm. 6). Als weiteres „Charakteristikum der Demotizismus-Bewegung“ gilt zudem „die Nähe der Bewegung zum griechischen Ethnozentrismus und Irredentismus“, wohingegen „die Einführung der Volkssprache in das Bildungswesen“ zunächst kein Thema war (ibid.: 67f.).

Vgl. dazu Holzschuh (1996: 159, Anm. 78):

Die Philologen stritten damals darüber, welcher Sprachform der Vorzug zu geben sei, und auch unter den Griechischlehrern der Kaiserin bestand hierüber Uneinigkeit; es entsprach aber doch dem Wesen der Kaiserin am ehesten, zu einer Zeit, als Puristen die Volkssprache als ordinär und primitiv anprangerten, der vom Volk gesprochenen Sprache, die sie als den natürlichen und kraftvollen Ausdruck der Volksseele empfand, den Vorzug vor der künstlichen Schriftsprache zu geben.

 

LITERATURVERZEICHNIS

Bourgoing, Jean de. 1949. Briefe Kaiser Franz Josephs an Frau Katharina Schratt. Wien: Ullstein.

Corti, Egon Caesar Conte. 1934. Elisabeth: „Die seltsame Frau“. Salzburg & Leipzig: Pustet.

Ενεπεκίδης, Πολυχρόνης Κ. 1984. Μακεδονικές πολιτείες και οικογένειες 1750–1930. (Πηγές και μελέτες για την ιστορία της τoυρκοκρατίας στις ελληνικές χώρες, 3). Αθήνα: „Εστία“.

Enepekides, Polychronis K. 1987. „Elisabeth und die Griechen: Der Kaiserin Vorliebe für das zeitgenössische Griechenland und seine Volkssprache“. In: Walther, Susanne (Red.). Elisabeth von Oesterreich: Einsamkeit, Macht und Freiheit. (99. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien). Wien: Eigenverlag der Museen der Stadt Wien, 58–73.

Galanakis, Yannis. 2008. „Doing Business: two unpublished letters from Athanasios Rhousopoulos to Arthur Evans in the Ashmolean Museum, Oxford“. In: Kurtz, Donna (ed., with Caspar Meyer et al.). Essays in Classical Archaeology for Eleni Hatzivassiliou 1977–2007. (Studies in Classical Archaeology, IV = BAR International Series, 1796). Oxford: Archaeopress, 297–309.

Giannakopoulos, Angelos. 2006. „Die Demotizismus-Bewegung als Rationalisierungsprozess in der griechischen Gesellschaft“. Zeitschrift für Balkanologie 42 (1+2): 63–77.

Haderer, Stefan. 2021. Im Schatten Homers: Kaiserin Elisabeth in Griechenland. Wien: Haderer.

Holzschuh, Robert. 1996. „Nachwort: Griechische Begegnungen“. In: Holzschuh, Robert (Hg. u. Komm.). Die letzte Griechin: Die Reise der Kaiserin Elisabeth nach Korfu im Frühjahr 1892 – erzählt aus den Tagebuchblättern von Constantin Christomanos. Aschaffenburg/Main: Krem-Bardischewski, 122–146.

Nolston, L.K. (Hg.). 1899. Ein Andenken an Weiland Kaiserin und Königin Elisabeth. Wien: Seidel.

Regia Scientiarum Universitatis Hung. Budapestinensis (Hg.). 1909–1921. Series [bzw. Ordo] praelectionum in Regia Scientiarum Universitate Hungarica Budapestinensi. Budapestini: Typis Regiae Universitatis Scientiarum.

Rhoussopoulos, Rhousso. 1898. „Aus dem Leben der Königin“. Pester Lloyd (24. September 1898, Abendblatt, 45. Jg. / Nr. 221): [2].

Szögi, László & Zsidi Vilmos. 2007. Dokumentumok a Keleti Kereskedelmi Akadémia történetéből 1891–1920. (A Budapesti Közgazdaságtudományi Egyetem Levéltárának kiadványai, 12). Budapest: [Budapesti Corvinus Egyetem].