01.07.2024 | Fußball-EM

Was macht Erfolg im Fußball mit einer Nation?

Erfolg über die Niederlande, lockerer Einzug ins Achtelfinale, ja vielleicht sogar Geheimfavorit auf den Titel: Der Jubel über die österreichische Nationalmannschaft ist zu Beginn der Fußball-Europameisterschaft nahezu grenzenlos und verbindet quer durch die Gesellschaftsschichten. Nach Jahren der Polarisierung in der Coronazeit scheint die Gesellschaft wieder geeint. Alexander Bogner, Soziologe vom Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) erklärt, welche Funktion Sport-Ereignisse haben können und wieso der derzeitige Freudentaumel eine Aufarbeitung der Krise dennoch nicht ersetzt.

„Im Taumel sportlicher Großereignisse erleben wir die Nation als große Gemeinschaft“, so ÖAW-Soziologe Alexander Bogner. © Adobe Stock

Während der Coronazeit ist in Familien- und Freundeskreisen über den Umgang mit der Pandemie diskutiert und gestritten worden. Manche sind verfeindet auseinander gegangen. Erleben wir während der Fußball-EM den gegenteiligen Effekt – die Menschen fiebern miteinander mit und freuen sich miteinander?

Alexander Bogner: In sportlicher Hinsicht war die EM bislang wirklich eine reine Freude, jedenfalls aus österreichischer Sicht. Die Vorrundenspiele haben gezeigt, was in der österreichischen Mannschaft steckt. So bietet dieses Sportereignis eine willkommene Ablenkung zu den zahlreichen Krisenthemen, mit denen wir im politischen Alltag zu tun haben.

Das gemeinsame Absingen der Bundeshymne kann eine vernünftige Aufarbeitung der Krise natürlich nicht ersetzen.

Haben wir falsch gedacht? Braucht wir vielleicht gar keine Versöhnungskommissionen und Bürgerräte? Reicht ein Ereignis wie der Erfolg bei der Fußball-EM, um das Land wieder zu einen?

Bogner: Das gemeinsame Absingen der Bundeshymne kann eine vernünftige Aufarbeitung der Krise natürlich nicht ersetzen. Wirkliches Verständnis für divergierende Positionen ergibt sich nur durch ernsthafte Diskussionen, nicht im kurzzeitigen Überschwang der Gefühle. Diese Diskussionen sollte man auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und Fakten führen, so anstrengend das ist. Aber auch das Anschauen mancher EM-Spiele war ja durchaus mühselig.

Überwindet Fußball die Polarisierung?

Ist die derzeitige gute Stimmung ein kurzzeitiges Phänomen? Streiten wir spätestens im Nationalratswahlkampf wieder wie gehabt? Oder gibt es Wege, den Schwung über die EM hinaus zu nützen?

Bogner: Warten wir ab, wie lange Österreich im Turnier noch mitspielt. Aber vielleicht ist dieser Pessimismus schon wieder typisch österreichisch… Den Schwung, der durch diese EM entsteht, sollte vor allem der Fußball selbst nutzen. Wenn politische Kontroversen durch sportliche Erfolge stillgestellt würden, wäre das ein schlechtes Zeichen. Eine lebendige Demokratie braucht Engagement und Streit.

Unsere Gesellschaft ist eine dynamische Leistungsgesellschaft, und gerade beim Sport gilt: immer weiter, immer höher, immer schneller.

Ist das, was wir gerade erleben, ein typisch österreichisches Phänomen? Die Nation definiert sich ja bis heute über den Sieg über Deutschland in Cordoba 1978. Und die Skierfolge von Toni Sailer 1956 gelten als Wiederauferstehung Österreichs nach dem 2. Weltkrieg und der Besatzungszeit.

Bogner: Dass sportliche Erfolge im Sinne nationaler Identitätsstiftung genutzt werden, ist sicher kein rein österreichisches Phänomen. Auch Deutschland hat den WM-Titel 1954 als Rückkehr in die Normalität gefeiert. Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat gezeigt, dass Nationen nicht etwas Natürliches sind, sondern definiert und hergestellt werden müssen. Die Sprache und die Medien spielen dabei eine zentrale Rolle, aber eben auch der Sport. Im Taumel sportlicher Großereignisse erleben wir die eigentlich abstrakte Nation als große Gemeinschaft.

Sport als verbindendes Element

Warum ist die Wertschätzung für den Sport quer durch alle Länder und Nationen heute so hoch?

Bogner: Die hohe Wertschätzung für den Sport ergibt sich aus soziologischer Perspektive zwingend dadurch, dass er bestimmte gesellschaftliche Prinzipien idealtypisch verkörpert. Unsere Gesellschaft ist eine dynamische Leistungsgesellschaft, und gerade beim Sport gilt: immer weiter, immer höher, immer schneller. Gleichzeitig besticht der Sport durch seine Anschaulichkeit: Jeder und jede kann die Regeln verstehen, nach denen Leistungen bemessen werden. Das ist bei wissenschaftlichen Erfolgen ganz anders. Die kann nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten wirklich würdigen. Sport entlastet von der zunehmenden Intellektualisierung des Lebens in modernen Gesellschaften.

Sport entlastet von der zunehmenden Intellektualisierung des Lebens in modernen Gesellschaften.

Eigentlich geht es im Sport ja nicht um Versöhnung, sondern um Wettkampf, bestenfalls um Fairness. Übernimmt der Sport da eine weitere Funktion von den Religionen, nach der (Heiligen-)Verehrung der Sportler:innen?

Bogner: Im Sport steht die Leistung, der Rekord, das Fair-Play im Mittelpunkt. Der Sport ist darum das perfekte Symbol einer pluralistischen Gesellschaft. Es geht um formale Dinge, die die Härte des Wettkampfs erst möglich machen. Es geht nicht um die Überwindung von Klassen- oder Glaubensunterschieden oder um die Verwirklichung von Frieden und Fortschritt – auch wenn das in der Rhetorik der Sportfunktionäre ganz anders klingt.

Wie politisch ist Fußball?

Politiker:innen sonnen sich gerne im Erfolg der Sportler. Auch Bundeskanzler Karl Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler ließen sich den Kabinenbesuch in Berlin nicht nehmen. Wie ist es einzuordnen, wenn Politiker:innen den Sport für ihre Zwecke nützen?

Bogner: Man kann das natürlich kritisieren. Die Frage ist jedoch, ob hochrangige Regierungsvertreter:innen es sich heute überhaupt noch leisten können, in Distanz zum Sport zu bleiben. Politik wird heute oft nicht mehr daran gemessen, ob sie zum Allgemeinwohl beiträgt oder soziale Gerechtigkeit durchsetzt. Im Zentrum des öffentlichen Interesses steht vielmehr die Frage, ob Politiker:innen medial gut rüberkommen, ob sie volksnah und authentisch sind. Vor diesem Hintergrund entsteht für Politiker:innen der subtile Zwang, sich in Sportlerkabinen zu drängen – auch wenn sie sich vielleicht gar nicht für Sport interessieren.

© ÖAW/Daniel Hinterramskogler

 

AUF EINEN BLICK

Alexander Bogner ist habilitierter Soziologe mit Schwerpunkt in den Bereichen Wissenschaft, Technik und Umwelt am Institut für Technikfolgen-Abschützung der ÖAW. Sein Forschungsinteresse kreist um die Frage, inwiefern Wissenschaft und Technik sich wandeln, wenn die Grenzen zu Politik und Öffentlichkeit durchlässiger werden. Empirischer Bezugspunkte seiner Analysen sind die Biomedizin, die Grüne Gentechnik sowie neue und emergierende Technologien.