10.06.2024 | Internationale Konferenz

„Digitale Technologien halten sich nicht an Ländergrenzen“

Welche Bedeutung haben Region und Kultur für den Umgang mit digitalen Technologien auf der Welt? Das hat die ÖAW im Forschungsprojekt AGIDE gemeinsam mit elf Partnerakademien untersucht. Die Ergebnisse werden jetzt vom 27. bis 28. Juni erstmals bei einer internationalen Konferenz in Wien einer breiten Öffentlichkeit präsentiert. ÖAW-Klassenpräsidentin Christiane Wendehorst, die das Projekt leitet, erklärt im Gespräch, warum wir im Zeitalter grenzenloser digitaler Technologien eine Ethik der Digitalisierung brauchen, die sozio-kulturelle Unterschiede berücksichtigt.

Die Digitalisierung erfordert auch neue Antworten aus der Ethik. © Shutterstock

Wie könnte Ethik im digitalen Zeitalter aussehen, wenn sie die sozio-kulturelle Vielfalt der Welt berücksichtigt? Mit dieser Frage befasst sich das Forschungsprojekt „Academies for Global Innovation and Digital Ethics“ (AGIDE), das die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gemeinsam mit 10 Partnerakademien aus der ganzen Welt ins Leben gerufen hat. Im Fokus steht dabei die Untersuchung von regionalen und kulturellen Faktoren, die den Umgang mit digitalen Technologien entscheidend beeinflussen. Vor der nächsten AGIDE-Konferenz „Narratives of Digital Ethics“ vom 27. bis 28. Juni, gemeinsam veranstaltet von ÖAW und Wiener Wissenschafts- Forschungs- und Technologiefonds WWTF, erklärt ÖAW-Klassenpräsidentin und AGIDE-Plattformleiterin Christiane Wendehorst, was es damit auf sich hat und welche Bedeutung dabei Narrativen zukommt.

Worum geht es in dem Forschungsprojekt AGIDE?

Christiane Wendehorst: Digitale Technologien verändern, wie wir leben, wie unsere Gesellschaften und unsere Volkswirtschaften funktionieren, wie künftig Machtverhältnisse global verteilt sind. Überall auf der Welt sehen wir das Bedürfnis, diese Entwicklungen ethisch zu begleiten und in eine Richtung zu lenken, die eine „gute digitale Zukunft“ verheißt. Daher sind in den letzten Jahren viele Prinzipien digitaler Ethik formuliert worden, auch auf regionaler und internationaler Ebene. Auffallend ist, dass all diese Kataloge ethischer Prinzipien sehr ähnlich klingen und etwa auf der Ebene von „Fairness“, „Accountability“ oder „Transparency“ ansetzen. Damit steht scheinbar im Widerspruch, dass die tatsächlichen Einstellungen zu digitalen Technologien weltweit sehr unterschiedlich sind. Diesem scheinbaren Widerspruch wollten wir auf den Grund gehen und besser verstehen, wo die Unterschiede liegen und woher sie kommen.

Digitale Technologien sind ihrem Wesen nach transnational und halten sich nicht an Ländergrenzen.

Wenn es so regionale Unterschiede gibt, braucht es denn übergreifende Prinzipien?  

Wendehorst: Digitale Technologien sind ihrem Wesen nach transnational und halten sich nicht an Ländergrenzen. Schließlich werden unglaubliche Datenströme innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde über alle Kontinente geleitet. Deshalb braucht es auch jedenfalls transnationale ethische Leitlinien für den Umgang mit diesen digitalen Technologien und sind die Bemühungen etwa der OECD und der UNESCO auch so wichtig. AGIDE will aber gerade nicht die Arbeit dieser internationalen Organisationen replizieren, sondern den Blick auf die Unterschiede und deren Ursachen richten. Nur wenn wir die Unterschiede kennen und besser verstehen, ist auch ein echter internationaler Konsens möglich.

Das Ziel von AGIDE war demnach das Erarbeiten dieser Unterschiede? Wie sind Sie dabei vorgegangen?  

Wendehorst: Ja, unsere Forschung war auf die Unterschiede fokussiert. Um ein klareres Bild zu erhalten, wurden mehr als 75 qualitative Interviews mit Expert:innen aus aller Welt geführt. Weitere Erkenntnisse wurden bei drei international besetzten Workshops erzielt. Die Ergebnisse der Interviews und Workshops haben wir analysiert, charakteristische Unterschiede herausgearbeitet und die Herangehensweisen systematisiert.

Was war Thema der drei Workshops?  

Wendehorst: Zwei dieser Workshops waren der Frage nach regionalen oder kulturellen Divergenzen gewidmet. Dafür sind die Teilnehmenden gebeten worden, jeweils dieselben Fragen aus ihrem eigenen regionalen oder kulturellen Kontext heraus zu beantworten. Es waren Fragen nach dem Bild einer guten digitalen Zukunft, den Ansichten der allgemeinen Bevölkerung in einer Region oder einem Kulturkreis sowie störenden kulturellen Stereotypen. In einem dritten Workshop haben wir mit Imaginaries gearbeitet und utopische und dystopische Zukunftsbilder gemeinsam reflektiert. Die so gewonnenen Ergebnisse wurden anschließend von der internationalen AGIDE Arbeitsgruppe analysiert.

Welche Erkenntnisse konnten so gewonnen werden?  

Wendehorst: Die Ergebnisse waren sehr aufschlussreich und auch überraschend. Wir begannen mit der Arbeitshypothese, dass die Unterschiede, die wir in Bezug auf digitale Ethik in verschiedenen Regionen dieser Welt wahrnehmen, darauf beruhen, dass Werte – wie Freiheit, Würde oder Privatsphäre – unterschiedlich gewichtet werden. Dafür haben die Daten, die wir erheben konnten, aber keine Grundlage geliefert, denn wir haben keine signifikante Abweichung in der Gewichtung der Werte festgestellt. Das AGIDE-Projekt hat vielmehr gezeigt, dass es eine bemerkenswerte Übereinstimmung bestimmter Grundwerte und ihrer Gewichtung quer über die verschiedenen Regionen und Kulturkreise der Welt gibt.

Die Ebene der Narrative

Konnten Sie andere charakteristische Unterschiede feststellen?  

Wendehorst: Ja, das Projekt AGIDE hat gezeigt, dass es jedenfalls große Unterschiede auf einer ganz anderen Ebene gibt, nämlich der Ebene der Narrative. Mit Narrativen meinen wir kleine „Geschichten“, die immer wieder erzählt und von einer größeren Gemeinschaft geteilt werden und die meist nach einem bestimmten Muster aufgebaut sind. Es gibt oft eine Hauptfigur, den Protagonisten, einen Konflikt mit einem Antagonisten, und schließlich eine Art „Auflösung“ des Konflikts.

Narrative tragen maßgeblich dazu bei, wie der ethische Umgang mit digitalen Technologien ausgehandelt wird.

Wie groß ist der Einfluss dieser Narrative? 

Wendehorst: Narrative tragen maßgeblich dazu bei, wie der ethische Umgang mit digitalen Technologien ausgehandelt wird, was gesellschaftlich als „gut“ oder „böse“ eingestuft wird. Wenn Narrative in einem bestimmten sozialen Umfeld dominant werden, weil sie von einer größeren Gruppe geteilt und/oder von einflussreichen Akteur:innen gefördert werden, können sie zu starken Treibern kollektiven Verhaltens werden und beeinflussen, wie Grundwerte operationalisiert werden. Einige Erzählungen scheinen sehr tief verwurzelt zu sein.

Von DSGVO bis Coloniality

Können Sie uns dafür ein Beispiel geben?  

Wendehorst: Als anschauliches Beispiel kann man die Europäische Union anführen, in der sich ein Narrativ, das wir in Anlehnung an die Datenschutz-Grundverordnung das „DSGVO-Narrativ“ genannt haben, als gegenüber Veränderungen extrem widerstandsfähig erweist. Das könnte so weit führen, dass wir andere, gleichfalls plausible Narrative – wie etwa das Narrativ der europäischen digitalen Souveränität im Verhältnis zu den USA oder China – gar nicht mehr etablieren können. Das hat dann Auswirkungen auf politische Optionen.

Wie sieht dieses „DSGVO- Narrativ“ konkret aus?  

Wendehorst: Hier ist der Protagonist ganz eindeutig das Individuum, das im Zentrum steht. Dieses Individuum wird primär als bedroht, als potenzielles Opfer der Technologie und der Digital Industrie („Big Tech“) gesehen. Die größte Befürchtung ist dabei ein Verlust von Autonomie. Und die präferierte Lösung des Konflikts ist klar Regulierung, die darauf abzielt, dem Individuum seine Autonomie wiederzugeben. Dieses Narrativ ist sehr charakteristisch für die EU und beeinflusst europäische Politik und Gesetzgebung.

Und wie ist die Situation außerhalb von Europa? 

Wendehorst: In anderen Teilen der Welt sehen wir ganz andere vorherrschende Narrative. So etwa ein Narrativ, das wir „Coloniality-Narrativ” genannt haben und das wir verstärkt in Beiträgen aus dem „Globalen Süden” beobachtet haben. Hier ist der Protagonist die Gemeinschaft, die von anderen Staaten oder Weltregionen marginalisiert und ausgenutzt wird, was letztlich in „digitalen Kolonialismus“ mündet. Die Lösung sieht dieses Narrativ in der Entwicklung genuin eigener digitaler Technologien mit dem Ziel kollektiver digitaler Souveränität. Insgesamt haben wir fünf hauptsächliche Narrativ-Muster gefunden, die allerdings in verschiedenen Abwandlungen auftreten und die teils auch fluide sind. Wenn man eine Ebene tiefer geht und etwa eine Region oder ein Land genauer betrachtet, tut sich freilich eine weit größere Vielfalt auf. Zugleich ergeben sich eine Fülle weiterer Forschungsfragen. Wodurch sind die Narrative entstanden? Was hat die Unterschiede bewirkt? Woran liegt es, dass manche flexibel und fluide sind, andere dagegen starr und verfestigt? Wie kann es gelingen, Narrative zu ändern?

Die Forschung geht weiter.

 

Auf einen Blick

Christiane Wendehorst ist Professorin für Zivilrecht an der Universität Wien und Scientific Director des European Law Institute. Sie ist Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und seit 2022 Präsidentin der philosophisch historischen Klasse der ÖAW. An der ÖAW leitet sie die Plattform AGIDE.

AGIDE-Konferenz „Narratives of Digital Ethics“

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