24.06.2024 | Science Update

„Iran ist kein monolithischer Block“

Nach dem Unfalltod des iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi ist die politische Zukunft des Landes unklar. Am 28. Juni wird ein Nachfolger gewählt. Über die unterschiedlichen Erwartungen der iranischen Bevölkerung, die herben Enttäuschungen der Protestbewegung und Irans Rolle im Nahostkonflikt, spricht der Iranist Florian Schwarz.

„Bis jetzt ist es noch keiner Regierung gelungen, Proteste und die politische Diskussion im Land dauerhaft zu unterdrücken“, sagt ÖAW-Iranist Florian Schwarz. © Adobe Stock

Der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in Polizeigewahrsam am 16. September 2022 war die Initialzündung einer historischen Protestwelle in Iran, die bis heute anhält. Wie es um die junge Generation der Protestierenden heute steht, was von den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen nach dem Unfalltod von Präsident Ebrahim Raisi zu erwarten ist und welche Rolle Iran im Nahostkonflikt spielt, erklärt Florian Schwarz, Direktor des Instituts für Iranistik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Die Stellung Irans war auch Thema eines Science Updates der ÖAW, bei dem Florian Schwarz und Kulturwissenschaftlerin Ariane Sadjed mit Journalist:innen am 24. Juni sprachen.

Nach dem Angriff Irans auf Israel im April ist ein offener Krieg zwischen den beiden Ländern ausgeblieben. Welche Rolle spielt das iranische Regime im Nahostkonflikt?

Florian Schwarz: Eine sehr komplexe. Iran hat es bisher vermieden offen und direkt militärisch in den Nahostkonflikt einzugreifen. Die Auseinandersetzung findet vielmehr über militärische wie politische strategische Verbündete statt, auf die Iran direkten und indirekten Einfluss hat, etwa die Hisbollah im Libanon. Es ist auch davon auszugehen, dass Iran bei dem Drohnenangriff auf militärische Einrichtungen in Israel nicht den offenen Konflikt gesucht hat.

Iran sieht sich als Regionalmacht und in Rivalität zu Saudi-Arabien im Nahen und Mittleren Osten. Die Politik in Bezug auf Israel ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen.

Wie hat denn die iranische Öffentlichkeit auf den Angriff reagiert?

Schwarz: Soweit man das einschätzen kann, ist die Haltung der iranischen Öffentlichkeit sehr zurückhaltend gegenüber dem militärischen und außenpolitischen Engagement Irans in der Region. Insgesamt kann man immer wieder Stimmen hören, die sagen, dass es angesichts der wirtschaftlichen Lage Irans und den gesellschaftlichen Spannungen im Land eine Verschwendung von Ressourcen ist, wenn man sich so stark in diesen regionalen Konflikten engagiert.

Iran sieht sich als Regionalmacht und in Rivalität zu Saudi-Arabien im Nahen und Mittleren Osten.

Gilt das für den gesamten Iran?

Schwarz: Iran ist kein monolithischer Block. Ein wichtiger Aspekt ist das Verhältnis von schiitisch persischsprachiger Mehrheitsbevölkerung zu Regionen Irans, die etwa sunnitisch dominiert sind, in denen andere Sprachen überwiegen. Die Frage von regionalen und religiösen Identitäten in Iran ist wesentlich komplexer, als sich das von außen so darstellt und als es auch die Islamische Republik Iran, die sich sehr stark als ein schiitischer Staat sieht, nach außen projiziert.

Am 19. Mai ist Präsident Ebrahim Raisi bei einem Helikopterabsturz ums Leben gekommen. Welche Stellung hatte er in der Islamischen Republik?

Schwarz: Präsident Raisi zählte eindeutig zum konservativen Flügel in der iranischen Politik und er war nicht sonderlich populär. Mit seiner Wahl zum Präsidenten der Islamischen Republik 2021 wurden große Teile der Macht im Land konzentriert und der direkte Zugriff von Revolutionsführer Chamenei auf den politischen Apparat noch ausgeweitet. Darüber wurden durchaus intensive politische Debatten im Land geführt.

Raisi war jemand, der für eine isolationistische Politik in der Islamischen Republik einstand – und das ist durchaus im Interesse Chameneis. Raisi war außerdem sehr eng mit dem großen schiitischen Heiligtum von Maschhad verbunden. Diese Stiftung ist einer der größten Wirtschaftsfaktoren in Iran – ein großer wirtschaftlicher und damit auch gesellschaftlicher und politische Faktor im Land. Wir werden sehen, was nach den Wahlen mit dieser Machtkonzentration passieren wird.

Die junge Generation, die hier protestiert, ist mit Erwartungen aufgewachsen, die vorangegangene Protestbewegungen in dieser Weise nicht hatten.

Die Präsidentschaftswahl im Iran findet am 28. Juni 2024 statt. Was erwartet sich die Protestbewegung, die unter dem Slogan „Frauen, Leben, Freiheit“ seit bald zwei Jahren auf die Straße geht, von den Wahlen?

Schwarz: Im Rennen um die Nachfolge für den verstorbenen Präsidenten Raisi stehen sechs Kandidaten zur Wahl. Die Kandidatur von vier Frauen wurde abgelehnt. Anders als bei vorangegangenen Protestbewegungen, ist es schwierig zu sagen, ob die Menschen jetzt noch daran glauben, dass ein Reformprozess innerhalb der Islamischen Republik erfolgreich stattfinden kann. Vielleicht ist die jüngere Generation – in Iran ist die Hälfte der Bevölkerung unter 35 Jahren – davon schon ganz abgekoppelt.

Der Tod der 22-jährigen Masha Amini im September 2022 in Polizeigewahrsam löste eine beispiellose Protestwelle im ganzen Land aus. Worum geht es mittlerweile?

Schwarz: Es geht um Freiheitsrechte für Frauen und für die gesamte Bevölkerung. Die junge Generation, die hier protestiert, ist mit Erwartungen aufgewachsen, die vorangegangene Protestbewegungen in dieser Weise nicht hatten, etwa die Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung nach dem das Atomabkommen 2015 in Wien geschlossen wurde.

Und es ist eine Generation, die sehr stark mit Social Media lebt und sich ihre eigenen Diskursräume eröffnet hat, die trotz aller Einschränkungen des Internets natürlich auch über Iran hinausgehen.

Die innenpolitische Krise Irans ist zu großen Teilen eine Wirtschaftskrise, sowohl der Jugend, aber auch der Mittelschicht.

Inwiefern haben die Wirtschaftsmisere und die Unzufriedenheit der Bevölkerung durch die hohe Inflation, die Massen mobilisiert?

Schwarz: Die innenpolitische Krise Irans ist zu großen Teilen eine Wirtschaftskrise, sowohl der Jugend, aber auch der Mittelschicht. Die Wirtschaftskrise führt immer wieder und punktuell zu sozialen Unruhen und regionalen Protesten, durchaus häufiger, als wir es normalerweise in den Medien sehen.

Gegen die Protestierenden geht die Polizei brutal vor.  Es werden Menschen ins Gefängnis geworfen, getötet, hingerichtet. Dennoch hört der Protest nicht auf. Funktioniert Einschüchterung nicht mehr?

Schwarz: Das hat noch nie funktioniert. Bis jetzt ist es noch keiner Regierung gelungen, solche Proteste und die politische Diskussion im Land dauerhaft zu unterdrücken.
 

Science Update: Iran

 

Auf einen Blick

Florian Schwarz ist Direktor des Instituts für Iranistik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Zuvor forschte er u. a. an der Universität Tübingen und der Universität Bochum. Vor seiner Berufung an die ÖAW war er Assistant Professor an der University of Washington, Seattle. Er ist korrespondierendes Mitglied der ÖAW.