17.09.2024 | Teilchenphysik

Forscher:innen fühlen dem Standard­modell mit hoch­präziser Messung auf den Zahn

Beim CMS-Experiment am Teilchenbeschleuniger LHC ist es unter Beteiligung von Forscher:innen der ÖAW gelungen, die Masse des W-Bosons, das an der Vermittlung der Schwachen Wechselwirkung beteiligt ist, mit einer der präzisesten Messungen aller Zeiten zu bestimmen. Ein älteres Ergebnis hatte eine Abweichung vom Erwartungswert des Standardmodells der Teilchenphysik ergeben.

Das CMS-Experiment am Teilchenbeschleuniger LHC am CERN. © 2017 CERN/Brice, Maximilien

Das Standardmodell der Teilchenphysik ist die beste Theorie der elementaren Bestandteile von Materie und ihrer Wechselwirkungen abseits der Gravitation, die Physiker:innen derzeit haben. Zahlreiche Experimente haben die Vorhersagen des Standardmodells immer wieder  bestätigt, aber nicht alle Parameter konnten bisher mit ausreichender Präzision vermessen werden. Eine neue Messung am Teilchenbeschleuniger LHC am CERN in Genf hilft jetzt, eine dieser Lücken zu schließen: Für die Masse des W-Bosons, das an der Vermittlung  der unter anderem für radioaktive Zerfallsprozesse relevanten Schwachen Wechselwirkung beteiligt ist, haben frühere Experimente widersprüchliche Daten geliefert. Vor allem ein Ergebnis, das 2022 am Tevatron-Teilchenbeschleuniger des Fermilab in den USA publiziert wurde, hat Physiker:innen Kopfzerbrechen bereitet.

Die Tevatron-Präzisionsmessung der Masse des W-Bosons wich deutlich von den theoretischen Vorhersagen des Standardmodells und älteren Ergebnissen ab. Eine solche Diskrepanz kann ein Hinweis darauf sein, dass das Modell lückenhaft ist und um zusätzliche Teilchen,  Kräfte oder Dimensionen ergänzt werden muss. Ein einzelnes abweichendes Ergebnis ist für Physiker:innen aber nicht genug, um bewährte Ideen über den Haufen zu werfen und die Notwendigkeit von neuer Physik zu postulieren. Forscher:innen des CMS-Experiments, an dem auch Physiker:innen des Instituts für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) mitarbeiten, haben deshalb Zerfälle des W-Bosons in Daten aus dem Jahr 2016 herangezogen, um die exakteste Messung der Masse des W-Bosons durchzuführen, die je am LHC durchgeführt wurde.

Geisterhafte Neutrinos

Die Masse anderer Elementarteilchen des Standardmodells, etwa jene des Higgs-Bosons oder des Z-Bosons, das ebenfalls an der Vermittlung der schwachen Kernkraft beteiligt ist, können anhand ihrer Zerfallsprozesse in Teilchenbeschleunigern extrem genau bestimmt werden. Beim W-Boson ist das deutlich schwieriger: Es entsteht wie die vorher genannten Teilchen bei Kollisionen im Beschleuniger und hat nur sehr kurze Zeit Bestand. Die genaueste Messung kann in seinen Zerfällen in ein Myon erreicht werden, das allerdings im Fall des W-Bosons von einem Neutrino begleitet ist. Dieses Neutrino lässt sich mit den Detektoren am LHC aber nicht erfassen. Deshalb ist es nicht möglich, die Masse direkt anhand der Energien der Zerfallsprodukte zu messen.

Die Forscher:innen mussten ein komplexes Verfahren entwickeln, das es mit enorm hoher Präzision erlaubt, die Masse ausschließlich anhand des Impulses des beim Zerfall entstehenden Myons zu bestimmen. Wichtige Elemente sind dabei die Verwendung der besten theoretischen Vorhersagen für die Produktion von W-Bosonen und eine extrem präzise Messung der Myon-Impulse. Das Z-Boson wurde danach als ein perfekter Kandidat für die Eichung eines solchen Algorithmus verwendet: Seine Masse ist experimentell sehr genau bestimmt und es zerfällt in zwei detektierbare Myonen. Die Forscher:innen haben die Daten von einem der Myonen ignoriert und konnten so eine Methode entwickeln, die eine unabhängige Überprüfung der Analysetechniken erlaubt..

Durch die Kombination der besten verfügbaren theoretischen und experimentellen Ansätze haben die Teilchenphysiker:innen ein Ergebnis für die Masse des W-Bosons erhalten, das dieselbe Genauigkeit erreicht, wie das abweichende Tevatron-Resultat. Die Masse des W-Bosons beträgt demnach 80 360,2 +/- 9,9 MeV und ist damit in Einklang mit der Vorhersage des Standardmodells und älteren Ergebnissen. Das letzte Wort ist damit noch nicht gesprochen und die Diskrepanz zwischen den hochpräzisen Messungen am CMS und am Tevatron erfordert weitere experimentelle Erkundung. Das Ergebnis zeigt ein weiteres Mal, dass das Standardmodell eine beeindruckend robuste Theorie ist: Wer dem Standardmodell auf den Zahn fühlen will, muss wie die Forscher:innen am CMS alle Möglichkeiten der Experimentalphysik  ausschöpfen.