30.10.2023

3 Jahre Wiener Terroranschlag: Hashtag #schleichdiduoaschloch prägte kollektives Gedächtnis

Welcher kollektive Erinnerungsraum sich bereits kurz nach dem Wiener Terroranschlag bildete und wie sich nationale und internationale Reaktionen auf Twitter unterschieden, das haben Wissenschaftler:innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften untersucht. Der Hashstag #schleichdiduoaschloch etablierte sich innerhalb von 48 Stunden als kollektives Narrativ der Erinnerung.

© Wikimedia Commons

Während seit dem Terrorangriff der radikalislamistischen Hamas auf Israel täglich neue schreckliche Bilder aus dem Nahen Osten kommen, jährt sich in Wien zum dritten Mal der Anschlag vom 2. November 2020. Damals tötete ein selbsternannter islamistischer Attentäter vier Menschen und verletzte 23 weitere. Der Angriff löste ein starkes Medienecho aus, vor allem auch auf der Plattform Twitter, heute X.
 
Auf der Suche nach dem kollektiven Gedächtnis zum Wiener Terroranschlag haben sich zwei Wissenschaftler:innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) auf erinnerungspolitische Narrative auf Twitter konzentriert. Gemeinsam mit der Computerwissenschaftlerin Marcella Tambuscio hat Historiker Martin Tschiggerl dazu 248.000 Tweets, an denen mehr als 133.000 Nutzer:innen beteiligt waren, analysiert. Die Ergebnisse wurden jetzt im Journal Social Media & Society als Open Access veröffentlicht.

#schleichdiduoaschloch als Teil der kollektiven Erinnerung

Ihre quantitativen Netzwerkanalysen zeigen, dass sich vor allem der in der Terrornacht entstandene und im Wiener Dialekt verfasste Hashtag #schleichdiduoaschloch (übersetzt: Verschwinde, du Arschloch) in den ersten 48 Stunden als kollektives Narrativ der Erinnerung etablierte. Auch außerhalb der verschiedenen Twitter-Communities erregte dieser Hashtag die größte Aufmerksamkeit, insbesondere in Österreich selbst. Angeblich soll ein Anwohner dem Attentäter diese Worte aus einem offenen Fenster zugerufen haben, allerdings taucht dieser Sager auf keinem der zahlreichen Amateurvideos auf.
 
Für die Forscher:innen handelt es sich hier um einen „erinnerungspolitischen Mythos“, der eng mit dem neu entstandenen kollektiven Gedächtnis zum Anschlag vom 2. November verbunden ist. „Erstaunlicherweise handelte es sich hierzulande vor allem um positive Narrative von Gemeinschaft und des Gedenkens an die Opfer. Islamophobe oder fremdenfeindliche Inhalte sind nur in absoluten Einzelfällen zu beobachten“, sagt Tschiggerl. Stattdessen wurde #schleichdiduoaschloch zum Symbol des Zusammenhalts von Wien. Tschiggerl: „Es ging darum, sich nicht unterkriegen zu lassen und die Idee eines gemeinsamen Wiens zu stärken.“

Internationales Framing vergangener Anschläge

International wurden in den sozialen Medien auch Hashtags wie #viennaattack, #prayforvienna oder #0211w verwendet, die den Terroranschlag vom 2. November 2020 in das Framing vergangener Anschläge einbauten. „Wenn wir uns die geografischen Koordinaten ansehen, erkennen wir, dass sie hauptsächlich aus Städten kommen, die ähnliche Anschläge erlebt haben – also Paris, Nizza oder Barcelona“, erklärt Marcella Tambuscio. Hier wurde auf bereits bestehende Narrative zurückgegriffen. Reaktionen kamen aber nicht nur aus Europa, sondern auch aus Indien: „Überrascht hat uns, dass es sehr starke Reaktionen in Indien gab, in denen die Erinnerung an den Anschlag in Mumbai 2008 reaktualisiert wurden“, sagt Tambuscio.
 
Was den Forscher:innen zudem wichtig ist zu betonen: Dass sie diese Analyse aufgrund der neuen Beschränkung von X, vormals Twitter, heute nicht mehr durchführen könnten. „Seit der Übernahme von Elon Musk ist es auch für Wissenschaftler:innen nicht mehr möglich, Tweets in großen Mengen herunterzuladen. Forschungsmethodisch ist das ein großes Problem“, so die ÖAW-Wissenschaftler:innen.

 

Auf einen Blick

Publikation:

"'#schleichdiduoaschloch' Terror, Collective Memory, and Social Media", Marcella Tambuscio, Martin Tschiggerl, Social Media & Society, 2023 (Open Access)
DOI: https://doi.org/10.1177/20563051231186365


Rückfragehinweis:

Sven Hartwig
Leiter Öffentlichkeit & Kommunikation
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Dr. Ignaz Seipel-Platz 2, 1010 Wien
T +43 1 51581-1331
sven.hartwig(at)oeaw.ac.at

Wissenschaftlicher Kontakt:

Martin Tschiggerl
Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Bäckerstraße 13, 1010 Wien
T +43 1 51581-3319
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