10.06.2022 | Napoleonische Kriege

Die vergessenen Gesichter des Krieges

Kriege werden bekanntlich aus der Perspektive der Gewinner erzählt. Auch einfache Soldaten finden in der Geschichtswissenschaft wenig Gehör. Die Historikerin Nebiha Guiga gibt durch ihre Forschung einfachen Soldaten und ihren Erfahrungen eine Stimme. Ihre Arbeit stellte sie an der ÖAW vor.

Gefecht an der Traunbrücke bei Ebelsberg am 5. Mai 1809 © Wikimedia Commons

Der Feldzug 1809 entlang der Donau brachte sowohl auf französischer als auch auf österreichischer Seite eine Unzahl an verletzten Soldaten. Nebiha Guiga, Historikerin am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin, untersucht den Napoleonischen Krieg aus der bislang wenig beachteten Perspektive der beteiligten Soldaten und Ärzte.

In Kriegsarchiven hat sie erstaunlich persönliche Aufzeichnungen gefunden, die diese Epoche lebendig werden lassen. In ihrem Online-Vortrag „The Faces of War 1809. Soldiers, Civilians, Surgeons“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) berichtete Guiga ausführlich davon. „Ich möchte Menschen vorstellen und wie es ihnen im Krieg gegangen ist. Um ihre Stimmen hörbar zu machen“, so die Wissenschaftlerin.

Es gibt seit den 1970er-Jahren den Trend, zu fragen, wie der Krieg den Alltag vieler Menschen beeinflusst hat.

Einzelschicksale im Fokus

Wie ist die Idee entstanden, den Napoleonischen Krieg von 1809 aus Perspektive der Soldaten zu erforschen?

Nebiha Guiga: Es gibt seit den 1970er-Jahren den Trend, nicht nur berühmte Feldherren, Kriegsführung, Waffen und Ausrüstung zu untersuchen, sondern zu fragen, wie der Krieg den Alltag vieler Menschen beeinflusst hat. Ursprünglich hat sich diese Forschung vor allem auf die beiden Weltkriege beschränkt. Dann wurde versucht, diese Ansätze auch auf frühere Kriege anzuwenden. Viele spannende Forschungsprojekte werden in diesem Kontext von der ÖAW betrieben.

Welche Quellen haben Sie verwendet?

Guiga: Briefe, Tagebücher, aber auch offizielle Dokumente wie Listen, auf denen vermerkt wurde, wie viele Soldaten in einer Schlacht verwundet wurden, Zahlen aus Krankenhäusern, Notizen von französischen Ärzten, die sie direkt neben dem Krankenbett gemacht haben. Eine wichtige Quelle ist ein Tagebuch eines gewissen Pierre Martin Pirquet, der in der österreichischen Armee gedient hat. Am 3. Mai 1809 bekam er in einer Schlacht eine Kugel ab, die in seiner Lunge stecken blieb. Erstaunlicherweise überlebte er. Und verarbeitete seine Erfahrungen in einem Tagebuch. Er erzählt, wie er behandelt wurde. Es dauerte vier Jahre, bis er wieder einsatzbereit war. Das war ein faszinierendes Dokument, eine kleine Publikation, die ich im Wiener Kriegsarchiv gefunden habe, die von der „Société des bibliophiles liégeois“, in Liège publiziert worden ist.

Welche Arten von Verletzungen gab es?

Guiga: Am häufigsten fand man Einschussverletzungen. Es gibt ein berühmtes Beispiel von einem Kavallerie-Brustpanzer aus der Schlacht von Waterloo, der von einer Kanonenkugel durchschossen wurde. Diese konnten verheerende Schäden anrichten, einem den Kopf abtrennen. Viele Skelette weisen Kampfspuren auf.

Es geht um viele Einzelgeschichten, die eine Epoche erst lebendig werden lassen.

Ärzte am Schlachtfeld

Sie erforschen aber auch die Arbeit der Ärzte?

Guiga: Um zu verstehen, wie es verwundeten Soldaten ging, muss man wissen, wie sie behandelt wurden. Es geht um viele Einzelgeschichten, die eine Epoche erst lebendig werden lassen. Ich möchte in meinem Vortrag Menschen vorstellen und wie es ihnen im Krieg gegangen ist. Um ihre Stimmen hörbar zu machen. Wie war es für Soldaten zu kämpfen? Wie sprachen sie über den Krieg? Über ihre Ängste, ihre Triumphe? Ihren Schmerz? Wie wurden ihre Verwundungen versorgt? Wie gingen Ärzte damit um, plötzlich tausende schwer verletzte Soldaten behandeln zu müssen?

Es geht also auch um traumatisierende Erfahrungen?

Guiga: Ja, es gibt allerdings eine Debatte, ob man den Begriff Trauma in diesem Zusammenhang überhaupt verwenden darf, weil er ja erst später kreiert wurde. Aber es war sicher eine enorme Herausforderung, wir haben Aufzeichnungen aus denen hervorgeht, dass vier Mal so viele Patienten untergebracht wurden als die Kapazität eines Krankenhauses eigentlich hergegeben hätte. Verletzte wurden auf den Gängen und auf der Straße behandelt.

Sie wussten, wen sie zurücklassen, der wird höchstwahrscheinlich sterben.

Wie kann man sich ein Schlachtfeld vorstellen?

Guiga: Das lässt sich in einem Report französischer Beamter gut nachlesen, die 1809 nach Wien kamen. Sie überlegten sich, was sie machen könnten, um befördert zu werden, und entschieden sich, aufs Schlachtfeld zu fahren, um Soldaten ins Krankenhaus zu bringen. Viele wurden nämlich einfach zurückgelassen. Sie kamen mit nur einem Pferdewagen und waren völlig überfordert. Da lagen hunderte schwer verletzte Männer in brütender Hitze, die seit Tagen nicht gegessen und getrunken hatten. Sie schrien vor Schmerzen. Die Beamten waren extrem geschockt von der Realität des Krieges. Am nächsten Tag kamen sie mit mehr Pferdewagen, aber es war wieder nicht genug. Sie mussten schwierige Entscheidungen treffen, wer gerettet werden soll und wer nicht.  Sie wussten, wen sie zurücklassen, der wird höchstwahrscheinlich sterben.

Nach welchen Kriterien haben sie ausgewählt?

Guiga: Sie entschieden sich, die am schwersten Verletzten mitzunehmen. Darunter war auch ein österreichischer Soldat, der eine Baby-Katze bei sich hatte. Er liebte diese Katze und sagte, er würde sie nie essen können, obwohl er extrem Hunger hatte. Er hat sie gefüttert, mit einem Stück Brot, das er noch hatte. Er verteidigte seine Katze mit letzter Kraft. Auch solche überraschenden Dokumente findet man: die Geschichte einer Katze mitten in einer Schlacht.

 

Auf einen Blick

Nebiha Guiga ist Historikerin am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Sie forscht zum Napoleonischen Krieg von 1809 aus der bislang wenig beachteten Perspektive der beteiligten Personen – der Soldaten und Ärzte auf beiden Seiten sowie der involvierten Zivilist/innen.

Am 14. Februar stellte sie auf Einladung des Instituts für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes in einem Online-Vortrag an der ÖAW ihre Arbeit vor.