Im 1400 war die theologische Fakultät der Universität Wien eine maßgebliche Institution in Sachen Bibelinterpretation. Sie trat mit anderen Universitäten zum gelehrten Wettstreit über die Auslegung der Heiligen Schrift des Christentums an. Im Zuge der Untersuchungen für ihre neue Monographie „Immovable Truth: Divine Knowledge and the Bible at the University of Vienna (1384-1419)” stieß Edit Anna Lukács, Mittelalterforscherin und Philosophin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), unter anderem auf durchaus provokante Fragen, die sich Gelehrte an den Universitäten zu dieser Zeit stellten. Im Wesentlichen gab es zwei unterschiedliche Ansätze, die damals für Diskussionen sorgten. So stellte die Universität Oxford den freien Willen als zentrale philosophische Annahme über die Theologie und kam zur kühnen These, dass auch ein lügender Gott möglich ist. Und: Dass es sich Jesus in letzter Minute anders überlegt haben könnte, und doch nicht am Kreuz gestorben sein muss.
Bibel-Auslegung made in Vienna
Die Wiener Universität hingegen stand in der Tradition von Paris und tat diesen radikalen Ansatz als reine Rhetorik und übertriebenen Individualismus ab. Man forderte eine strengere Lektüre der Bibel. Zugleich wurden auch in Wien spannende Thesen zugelassen: So wurde diskutiert, dass es Maria nicht hätte geben müssen, um Jesus zur Welt zu bringen. „Es hätte auch eine andere Jungfrau aus Galiläa sein können. Das Hauptelement der Offenbarung musste stimmen, die Personen konnten flexible Varianten sein“, erklärt Lukács vom Institut für Mittelalterforschung der ÖAW. Zentral in der Lehre, wie Lukács sie an ausgewählten Autoritäten der Zeit erläutert, war die Auslegung der Bibel als eine Zusammenschau wahrer Aussagen über die Vergangenheit und die Zukunft, als eine genaue historische Aufzeichnung und präzise Vorhersage von Ereignissen.
Ketzer, Kröten und Teufel
„Die Wiener Gelehrten beeinflussten mit ihren Bibelkommentaren wichtige theologische Debatten der Zeit. Ihre Werke gehören zu den längsten und einflussreichsten, vielleicht sogar eindringlichsten Bibelkommentaren, die jemals in Wien verfasst wurden“, so Lukács. Ihre Studie, die auf einem Corpus von über 30 Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek gründet, gewährt einen Einblick in die ungewöhnlichen Ideen und apokalyptischen Erwartungen der Zeit. Ketzer, Kröten und Teufel spielen ebenso eine Rolle wie Einschätzungen von christlichen wie jüdischen Denkern und Dichtern der italienischen Renaissance, und nicht zuletzt die andauernde Suche nach einer unveränderbaren Wahrheit.