17.01.2024

Genese eines Skandals – Thomas Bernhards „Heldenplatz“ in einer historisch-kritischen digitalen Edition

1988 jährte sich das Bestehen des Burgtheatergebäudes an der Ringstraße zum hundertsten Mal; Burgtheaterdirektor Claus Peymann hatte Thomas Bernhard den Auftrag für ein Stück gegeben, das anlässlich dieses Jubiläums aufgeführt werden sollte.
1988 war aber auch das ‚Bedenkjahr‘ der fünfzigsten Wiederkehr des sogenannten ‚Anschlusses‘ Österreichs an das Dritte Reich. Bernhard wählte die Ausgangssituation für sein Stück dementsprechend: Der Mathematikprofessor Josef Schuster, aus dem englischen Exil zurückgekehrt, hat aufgrund der wiedererstarkten NS-Ideologie im März 1988 Selbstmord begangen.

„Heldenplatz“, das letzte zu Bernhards Lebzeiten veröffentlichte und aufgeführte Drama (Erstausgabe in der Bibliothek Suhrkamp, Herbst 1988) sollte zum bis dato größten Theaterskandal der Zweiten Republik werden und zu einem Exempel nicht nur der literarischen, sondern auch der politischen und gesellschaftlichen Geschichte Österreichs.

Der Text sollte bis zur Uraufführung geheim gehalten werden, doch aufgrund einer bis heute nicht geklärten Indiskretion wurde er noch während der Proben verschiedenen Zeitungsredaktionen zugespielt. Die Veröffentlichungen – „6,5 Millionen Debile“, titelte die „Kronen Zeitung“ – führten zu vehementen Protesten des Bundespräsidenten Kurt Waldheim, des Altkanzlers Bruno Kreisky (SPÖ) und des Vizekanzlers Alois Mock (ÖVP). Im Zentrum der Kontroverse, in deren Verlauf selbst die Kunstfreiheit in Frage gestellt wurde, stand der Vorwurf, dass es unzulässig sei, derartige Österreich-Beschimpfungen auch noch durch Steuergelder zu finanzieren.
Bis zur Premiere am 4. November 1988 wurde darüber spekuliert, ob Bernhard den Text ent- oder verschärft haben könnte.

Bei der Uraufführung – im Beisein des Autors – kam es im ausverkauften Burgtheater schließlich zu halbstündigem Applaus und lautstarken Buhrufen gleichermaßen. Die Premiere fand anlässlich angekündigter Protestaktionen seitens zahlreicher Gruppierungen unter Polizeischutz statt.

Die nun an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erschienene historisch-kritische digitale Edition dokumentiert erstmals die im Nachlass überlieferten Entstehungsstufen (Entwürfe, Typoskripte und Druckfahnen mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen) als Faksimiles mit entsprechender Transkription. Aus diesen Textträgern geht nicht nur hervor, wie Bernhards Ideen in den typischen thematischen und syntaktischen Schleifen entwickelt wurden, sondern auch, dass er auf die Skandalisierung seines Dramas im Grunde nicht reagierte: Spätere Texteingriffe haben mit seiner Österreich-Polemik nichts zu tun.

Ende 2021 erschien am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (acdh-ch)bereits die historisch-kritische digitale Edition von Bernhards Erzählung „Wittgensteins Neffe“ (Erstausgabe Bibliothek Suhrkamp,1982). Die nun in der Abteilung für Literatur- und Textwissenschaft (LTW) veröffentlichte „Heldenplatz“-Ausgabe ist nach ähnlichen Prinzipien aufgebaut: Sie präsentiert die Digitalisate der betreffenden Überlieferungsträger mit Transkription, sowie einen Stellenkommentar und Register zu Personen, Orten, Ereignissen usw. Alle integrierten Texte sind voll durchsuchbar. Besonderes Augenmerk wurde auf die möglichst akkurate Umschrift von Bernhards vielfältigen und komplexen Korrekturen und Eingriffen in die Textzeugen gelegt. Entstehung und Rezeption des Dramentextes werden ausführlich dargestellt, die zahlreichen und kontroversen Presseartikel in zeitlicher Abfolge bibliographisch erfasst und in einer interaktiven Timeline visualisiert.

 

Herausgeberteam: Konstanze Fliedl, Barbara Tumfart, Silvia Waltl

Implementierung: Andreas Basch

Webdesign: Anna Haidegger

 

Link zur Edition:

https://hp.ace.oeaw.ac.at/