01.07.2022

SOUNDS & SIGHTS OF SCIENCE #7

Das abchasische Alphabet – vorgestellt von Kerstin Klenke

Was ist zu hören?

11.06.2017 – Sukhum/i, Abchasien: Ada Kvarchelia, Linguistin und seit heute meine Abchasisch-Lehrerin, spricht zum Ende unserer ersten Unterrichtseinheit das abchasische Alphabet in mein Aufnahmegerät, damit ich zur nächsten Stunde die Aussprache der Buchstaben üben kann. Wir sitzen in der Küche ihres Hauses, der Abend ist sehr warm. Im Hintergrund ist das Geräusch des Ventilators über dem Tisch zu hören – und einmal auch Adas Dackel Ralf, der sich nach dem Aufwachen schüttelt. Das Alphabet scheint sich endlos fortzusetzen, und einige Laute bringen mich bereits beim Zuhören zur Verzweiflung. Meine Verzweiflung kann man auf der Aufnahme nicht hören, ich selbst höre sie aber immer mit – ebenso wie meine Begeisterung über die neun Varianten des Buchstaben K.

 

AUFNAHME ABSPIELEN

 

Was ist daran besonders interessant?

Abchasisch ist eine komplexe Sprache, nicht nur aufgrund des umfangreichen Alphabets mit 58 Konsonanten in der Standardsprache; für einen der lokalen Dialekte unterscheiden einige Linguist:innen sogar mehr als 100 Konsonanten. Abchasisch zählt zur Familie der nordwestkaukasischen Sprachen, der auch Adygeisch, Kabardinisch, Abasinisch und das bereits ausgestorbene Ubychisch angehören. Mindestens ebenso interessant wie die Sprache, deren Alphabet sie enthält, ist die Aufnahme für mich deshalb, weil sie zu der Art von Forschungsmaterialien gehört, die es in der Regel nicht in Archive schaffen, aber eine Grundvoraussetzung für Feldforschung dokumentieren: Spracherwerb – meist langwierig, oft mühsam. Adas Alphabet ist die von mir mit Abstand am häufigsten gehörte Aufnahme aus meiner Abchasien-Forschung.

 

Wie beschäftige ich mich damit?

Thema meines aktuellen Forschungsprojekts ist Abchasien – Krieg, Musik, Erinnerung, für das ich bislang zehn Monate auf Feldforschung in Abchasien verbracht habe. Im Fokus meiner Untersuchungen steht die klangliche Dimension individueller und kollektiver Formen der Erinnerung an den Georgisch-Abchasischen Krieg 1992-93. Abchasisch lerne ich mit dem Ziel des Leseverständnisses, um Liedtexte analysieren und Zeitungsartikel lesen zu können; Interviews führe ich auf Russisch. Zwei der in meiner Forschung prominentesten abchasischen Wörter sind außergewöhnlich vokallastig und damit vergleichsweise leicht auszusprechen: aibaś’ra (Krieg) und aiaaira (Sieg). Das Phonogrammarchiv besitzt keine Aufnahmen abchasischer Sprache, wohl aber sehr frühe Aufnahmen anderer kaukasischer Sprachen von Adolf Dirr (1867-1930), die wir im kommenden Jahr in der Gesamtausgabe der Historischen Bestände 1899-1950 publizieren werden.


Kerstin Klenke ist Musikethnologin und Leiterin des Phonogrammarchivs. Sie forscht zu Musik und Politik in Zentralasien und im Kaukasus.

 

Links:

War, Music, Memory—Ethnomusicological Explorations in Abkhazia. A Conversation Between Kerstin Klenke (Phonogrammarchiv, Vienna) and Olivia Jaques (Performatorium, Vienna)

Gesamtausgabe der Historischen Bestände 1899-1950

Viacheslav A. Chirikba (2003): Abkhaz. München: Lincom Europa