15.05.2022

Arthur Schnitzler ist „frappirt“

Zum 160. Geburtstag des Autors: auf Schnitzlers Spuren im Phonogrammarchiv

Am 19. März 1907, einem Dienstag, besuchte Arthur Schnitzler nachmittags das Phonogrammarchiv der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Es war damals noch in den Räumlichkeiten des Physiologischen Instituts der Universität Wien (Währinger Straße 13 bzw. Schwarzspanierstraße 17, Wien IX.) untergebracht, dessen Ordinarius, Sigmund Exner, zugleich Obmann der Phonogrammarchivs-Kommission war. Obwohl Exner in Schnitzlers Tagebüchern keine Erwähnung findet, ist es dennoch nicht unwahrscheinlich, dass er ihn schon während seines Medizinstudiums kennengelernt hatte, war Exner doch Assistent bei Ernst von Brücke (1819–1892), Schnitzlers Physiologielehrer (1). Einer allfälligen Bitte um eine Tonaufnahme wird er somit gerne nachgekommen sein. Die Idee dazu könnte freilich auch vom Literaturhistoriker und Akademiemitglied Jakob Minor stammen, zumal die sogenannten Stimmporträts zahlreicher Schriftsteller auf seine Vorschläge zurückgehen und er sich erfolgreich für die Vergabe des Grillparzer-Preises der Akademie an Schnitzler (1908) einsetzte (2).

Fritz Hauser, Assistent im Phonogrammarchiv, bediente, wie so oft, den von ihm konstruierten Archivphonographen. Schnitzler, den technischen Errungenschaften und neuen Medien seiner Zeit gegenüber prinzipiell aufgeschlossen, wird wohl durchaus Interesse am Vorgang der Tonaufnahme an sich gehabt haben – sie sollte seine einzige bleiben und die von ihm besprochene Wachsplatte bzw. die davon hergestellte Metallmatrize später die Nummer 536 erhalten.

Auch für dieses Phonogramm wurde das übliche Protokollblatt (mit standardisiertem Vordruck) angelegt, wobei im Falle der Stimmporträts die aufgenommenen Personen öfter die erforderlichen Angaben zu den „Phonographirten“ (zumindest teilweise) selbst mit der Feder eintrugen. Auf diese Weise haben sich in den Protokollköpfen also auch Autographen – wie hier von Arthur Schnitzler – erhalten. Der aufgezeichnete Text wurde hingegen in der Regel seitens des Phonogrammarchivs hinzugefügt.

In den Beständen des Phonogrammarchivs befindet sich jedoch noch ein weiteres – bislang offenbar unbekanntes oder in früheren Editionen zumindest nicht erwähntes – Autograph von Arthur Schnitzler: seine mit Bleistift geschriebene Vorlage für die rezitierten Passagen aus zwei eigenen Werken, von ihm folgendermaßen angeführt: „Lebendige Stunden (der Einakter aus dem Cyklus gleichen Namens)“ und „Der Schleier der Beatrice, Schluss“.

AUFNAHME ABSPIELEN

 

In seinem Tagebuch wird Schnitzler später dazu notieren:

„Im Phonogr. Archiv; phys. Institut. Sprach hinein Leb. Stunden und Beatrice (paar Worte, paar Verse). Hörte es gleich darauf und war frappirt über den ausgesprochen nasal jüdischen Charakter meines Organs.“

Soweit die Einschätzung von Schnitzler höchstpersönlich (man vergleiche dazu auch seinen Eintrag im Feld „Raçe, Stamm“ des Protokolls).

Die von Schnitzler vorgetragenen Zitate sind klug gewählt, haben die Werke doch trotz ihrer unterschiedlichen Form (Prosaeinakter bzw. fünfaktiges Versdrama) in thematischer Hinsicht durchaus Überschneidungen:

„In der ,Beatrice‘“, so Konstanze Fliedl, „hat Schnitzler aber ein verdecktes Programm aufgestellt: Die Kunst sei die einzige Möglichkeit, Geschichte ,lebendig‘ zu bewahren“ – der „Garant“, der dieser „Lebensintensität zur Dauer verhilft“ (3).

Das erste Zitat wiederum diente im ursprünglichen Kontext zwar als Legitimation der schriftstellerischen Tätigkeit, ist in diesem Zusammenhang aber wohl auch als Verbeugung vor dem Beruf des „Phonographisten“ zu sehen, der es uns ermöglicht, „die Stimmen hervorragender Persönlichkeiten aus früheren Zeiten zu vernehmen“ und „deren Klang und Tonfall sowie die Art des Sprechens“ für die Nachwelt zu bewahren – wie es Kaiser Franz Joseph 1903 in seinem von Sigmund Exner formulierten Stimmporträt (Ph 2) ausgedrückt hat.

Christian Liebl


(1) Peter Michael Braunwarth. 1997. Arthur Schnitzler und Schriftsteller seiner Zeit. (Tondokumente aus dem Phonogrammarchiv, hg. von D. Schüller: Historische Stimmen aus Wien, Vol. 4, OEAW PHA CD 4). Wien: VÖAW, S. 8.

(2) Renate Wagner. 2006. Wie ein weites Land: Arthur Schnitzler und seine Zeit. Wien: Amalthea, S. 194.

(3) Konstanze Fliedl. 1997. Arthur Schnitzler: Poetik der Erinnerung. Wien: Böhlau etc., S. 103, 101.


Links

Biographie des Monats Mai 2022 (ACDH-CH/ÖBL)

Biografieblog, 12.5.2022 (DER STANDARD)

Arthur Schnitzler: Tagebuch. Digitale Edition. Eintrag für den 19.3.1907 (ACDH-CH)

Gesamtausgabe der Historischen Bestände 1899–1950, Serie 2: Stimmporträts