21.06.2024

170 JAHRE „GOTT ERHALTE …“

Die Kaiserhymne und der kuriose Völkerchor

Vor 220 Jahren, am 21. Juni 1804, wurde Johann Gabriel Seidl in Wien geboren. Neben Liedern für Franz Schubert, Robert Schumann oder Carl Loewe sollte vor allem eine Schöpfung aus seiner Feder die Zeiten überdauern: der neue, vierstrophige Text der Kaiserhymne bzw. Volkshymne („Gott erhalte, Gott beschütze …“), den Kaiser Franz Joseph I. 1854, also vor 170 Jahren, genehmigte; die von Joseph Haydn für die erste Hymne (1797) komponierte Melodie wurde beibehalten. Seidls Fassung war bis zum Untergang der Habsburgermonarchie 1918 in Gebrauch, wobei sie auch in weitere Sprachen des Vielvölkerstaates übertragen wurde.

Ob Seidl wohl jene beiden Tondokumente goutiert hätte, die am 27. September 1915, 40 Jahre nach seinem Tod, im Phonogrammarchiv der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien entstanden? Immerhin wurde in dieser Aufnahmesitzung die Volkshymne doch gleichzeitig in deutscher, ungarischer, tschechischer und polnischer Sprache gesungen, und das sogar zweimal (vgl. die Phonogrammplatten Ph 2512 bzw. Ph 2513, veröffentlicht in Serie 4 der Gesamtausgabe der Historischen Bestände 1899–1950)! Die Idee stammte vom damals 38-jährigen Tschechen Friedrich Krátký, laut Protokollblatt zu Ph 2512 in „Golčův-Jeníkov, Kgr. [Königreich] Böhmen“ geboren, später wohnhaft in Wien und „Prof. d. böhm. Sprache u. Institutsinhaber“.¹

Einige Überlegungen und Anmerkungen zu seiner Bearbeitung hielt Krátký in einer maschinschriftlichen Beilage zum Protokoll fest, aus der hier (und z.T. auch im Folgenden) auszugsweise zitiert wird:
 

Der Völkerchor ist der gemeinsame, isorhythmische Gesang mehrerer Völker in ihrer Muttersprache. Ein solcher Völkerchor wurde vorgetragen und der Schall in einem Phonographen aufgefangen. Und wenn jemand die Platte abhört, so hört er einen deutschen Chorgesang. Wenn aber derselben Phonographplatte ein Ungar zuhört, so hört er den Gesang ungarisch; ein Böhme hört ihn böhmisch und ein Pole denselben Chor polnisch. Ein Zuhörer, der keine dieser Sprachen kennt, hört einen Chor polyvokaler Symphonie.

Friedrich Krátký hatte sein Arrangement bereits 1910 veröffentlicht und es augenscheinlich gut vermarktet. Zum einen wurde es nämlich – seinen Angaben zufolge – laut „Zuschrift des Oberstkämmereramtes […] der k.u.k. Fideikommiss-Bibliothek einverleibt“;² zum anderen schaffte es Krátký damit am 30. April 1914 sogar auf die Titelseite der humoristischen Wochenschrift Die Muskete, die mit der von Fritz Schönpflug gezeichneten Karikatur (und erklärendem Text ober- und unterhalb) auf „den berühmten Prater-Zauberer Kratky-Baschik“ anspielt.

Eine Probe des Stückes fand zunächst am 23. Juli 1914, wenige Tage vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, im Wiener Konzerthaus statt. Doch erst im darauffolgenden Jahr wurde das Werk als „Männerchor aus der Völkerhymne“ am 6. März 1915 „im Festsaal des Militärkasinos am Schwarzenbergplatz in Wien vor geladenen Gästen“ präsentiert und schließlich am 15. April 1915 im Großen Musikvereinssaal im Rahmen des „I. Völkerchor-Festkonzert[s] zugunsten der im Felde erblindeten Soldaten“ (Fremden-Blatt, 15. April 1915, S. 13) „vom Hofopernchor in Nationalkostümen“ öffentlich aufgeführt. Dazu meinte eine Pressestimme (Deutsches Volksblatt, 16. April 1915, S. 9):

Hierauf zogen in kleinen Gruppen Polen, Tschechen, Magyaren und Deutsche in ihrer Volkstracht auf, um unter dem Zauberstabe des Herrn Kratky, der sich kurzerhand aus einem Sprachlehrer in einen Dirigenten verwandelt hatte, die österreichische Volkshymne in vier Sprachen zugleich anzustimmen. Rein künstlerische Wirkung konnte da natürlich nicht erzielt werden und so hielt man sich denn an die Symbolik des Augenblickes.
 

Einen akustischen Eindruck davon bietet nun das auf ein „Völkerquartett“ reduzierte Phonogramm Ph 2513 mit der ersten Strophe der Hymne, eingeleitet von Friedrich Krátký mit den Worten: „Die Original-Uraufführung des Männerchores aus dem Werke: ‚Haydns Volkshymne aufgeführt als Völkerhymne von Friedrich Krátký‘.“³
 

Später sandte Krátký – noch immer voller Idealismus – sein „Lebenswerk“ an die „Musikhistorische Zentrale beim k.u.k. Kriegsministerium“ – wohl in der doch etwas naiven Hoffnung, auf diese Weise „die sprachlich getrennten Völker in ihren gemeinsamen Gefühlen zu vereinen und so die Völkereinigkeit und Einheit zu fördern“;⁴ der Zerfall des Vielvölkerreiches war freilich auch dadurch nicht mehr aufzuhalten …

 

Christian Liebl

 


ANMERKUNGEN

¹ Lehmanns Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger (1915) verzeichnet ihn als „Bes.[itzer] u. Leiter d. I. Böhmischen Spezial-Sprachinstitutes, I. Opernring 9“.

² In der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek finden sich mehrseitige gedruckte Partituren aus den Jahren 1910 bzw. 1914: „8stimm. gem. [gemischter] Chor a cappella“ (1910/1914), „Gem. Chor, Klavier“ (1910) sowie „4stimm. Männer-Chor mit Klavier oder Orgel“ (1914), in letzterem Falle mit dem Zusatz „Zugunsten des Roten Kreuzes und verwaister Soldatenkinder aller Nationen der Gesamt-Monarchie“.

³ Hier ein Auszug aus den Angaben zu den großteils durchaus professionellen Interpreten (vgl. Protokoll zu Ph 2512), wobei sich insbesondere Jaromír Herle als Komponist und Chorleiter einen Namen und um die tschechische Musik in Wien verdient gemacht hat:

1. Tenor Ernst Edl. v. Reichelt. Deutsch. 30 J. Sänger d. K.k. Hof-Oper Wien. […]

2. Tenor Dr. Regitko Dezső, Vicesekretär der K. ung. Staatsbahnen, Budapest. 33. J. […] (Ungarisch)

1. Bass Jaromír Herle, Böhmisch, Mitglied der K.k. Hofoper, Dirigent des Böhmischen Gesangs-Vereines „Lumír“ in Wien. 43 J. […]

2. Bass Jan Zięba Pole 41 Jahre […] Revident im kk. Eisenbahnministerium Obmann und Chormeister des polnischen Gesangvereines „Lutnia“ in Wien. […]

⁴ Vgl. dazu Eva Maria Hois. 1999. „Völkerverbindend oder national? Die Funktionalisierung des Volksliedes in der Habsburgermonarchie. Ein Beitrag zur Geschichte der Volksliedforschung in Österreich“. Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 48: 130–148, hier S. 147f.