Mittelalterliche Grundlagen der modernen Welt

In der Öffentlichkeit gilt das Mittelalter oft als Gegenbild zur aufgeklärten Moderne: dunkle Jahrhunderte, in denen Armut, Unwissen, Aberglauben, Blutrache, Folter und Hexenverfolgung herrschten. Zum Teil wird das Mittelalter auch als Epoche der Genügsamkeit verklärt, in der jeder in einer überschaubaren Gesellschaft seinen Platz hatte und mit deren Helden man sich gerne identifiziert. Mittelalter-Fantasien von König Artus bis zu den Nibelungen, von den Geheimnissen der Templer bis zum Herrn der Ringe finden ein begeistertes Publikum. Alle diese Mittelalter-Bilder basieren mehr auf Vorurteilen als auf Wissen. Doch zugleich zeigen sie, was den Reiz am Mittelalter ausmacht: Es ist eine Zeit, die uns seltsam vertraut und zugleich fremd ist. Mittelalterliche Kirchen, Burgen, Stadtviertel prägen noch heute vielerorts die Landschaft. Andererseits wirken Kampf- und Wirtschaftsweise, Standesprivilegien und Sozialordnung, religiöser Fanatismus und bewaffnete Selbsthilfe altertümlich. Der mindestens ebenso fremdartigen klassischen Antike fühlen wir uns, seit Renaissance und Humanismus, ungleich mehr verbunden. Besonders die Übergangszeit von der Antike zum Mittelalter gilt als dunkel: Völkerwanderung und Fall Roms, Verfall der Bildung und Aufstieg der Kirchenherrschaft werden als archaisch und fremdartig betrachtet. Der Beginn der Entwicklung von Staaten und Nationen, rationalem Denken und Individualität, Bildung und Wissenschaft wird erst in der Neuzeit gesucht, während man die frühmodernen Hexenverfolgungen oder die erst im 20. Jahrhundert perfektionierte Unterdrückung abweichender Meinungen ins Mittelalter verlegen möchte.


Wenig bedacht wird dabei, wieviele Elemente des modernen Lebens aus dem Mittelalter stammen. Vieles daran betrifft das Alltagsleben: Knöpfe, Brillen (das „Mittelalter auf der Nase“http://www.chbeck.de/Frugoni-Mittelalter-Nase/productview.aspx?product=12519), Gabeln, Steigbügel, Taschen- und Turmuhren, das Schachspiel, arabische Zahlen, Buchführung und Bankwesen, Universitäten, Papier, Buchdruck und Schießpulver verbreiteten sich im Mittelalter.

Ein viel größeres Forschungsproblem stellen aber die Grundstrukturen des modernen Europa dar. In der Spätantike und im Frühmittelalter wurde fast ganz Europa christianisiert. Das war das in der Weltgeschichte bis dahin vielleicht ehrgeizigste Experiment, alle Lebensbereiche nach einer höheren Wahrheit zu organisieren, um deren exakte Formulierung das ganze Mittelalter lang mit geistiger Schärfe gerungen wurde. Die Durchsetzung dieser christlichen Wahrheit rief zugleich intellektuelle und pragmatische Widerstände hervor, die ebenso zum europäischen Erbe gehören. Christlich geprägt war auch die neue politische und ethnische Organisation des Kontinents in Königreiche, die nach Völkern benannt wurden. So wurde die Grundlage der modernen europäischen Nationalstaaten gelegt. Lange Zeit hat die Forschung Probleme gehabt, diese bis heute grundlegenden Veränderungen nicht als Verwirklichung oder Zerstörung einer natürlichen Ordnung anzusehen, sondern als historische Prozesse zu untersuchen. Umso wichtiger ist es, die Welt des Mittelalters quellennahe und umsichtig darzustellen.

Die Forschung muss sich auch am Dialog mit der Öffentlichkeit orientieren und sich bemühen, dass ihre Stimme hörbar bleibt. Gerade die Gegenbilder und Fluchtwelten eines eingebildeten Mittelalters müssen mit fundierten Forschungsergebnissen konfrontiert werden. Der Verlust der historischen Urteilsfähigkeit und damit des kulturellen Gedächtnisses droht; umfassende wissenschaftliche Beschäftigung mit Geschichte ist heute besonders notwendig. Schon einmal, im Lauf des 19. Jahrhunderts, haben sich romantische Mittelalterbilder, zu denen renommierte Historiker beigetragen haben, zu aggressiven nationalen und autoritären Ideologien verselbständigt. So sehr ein breites Interesse an Geschichte zu begrüßen ist – die ständige professionelle wissenschaftliche Beschäftigung mit der Vergangenheit ist die einzige Möglichkeit, Missbrauch und Beliebigkeit im Umgang mit der Geschichte entgegenzutreten.

Mittelalterforschung bedarf dazu freilich eines kritischen Blicks auf ihre eigene Geschichte, denn zu oft sind Mediävisten in der Vergangenheit bewusst oder unbewusst selbst zu Komplizen ideologischer Verzerrungen geworden. Das Interesse am Mittelalter speiste sich lange Zeit aus romantischen Vorstellungen, die oft mit antimodernen Reflexen verknüpft waren. Eine Zeit, in der Autoritäten unbefragt akzeptiert wurden, in der in überschaubaren Lebenswelten jeder seinen Platz hatte und wo der Glaube Antworten auf alle Fragen bot, schien vielen als Gegenbild zur Modernisierung attraktiv, und viele Historiker lieferten dafür Material. Die Folge waren reaktionär-ständestaatliche Ideologien. Noch gefährlicher waren jene nationalen Bewegungen, die Ursprung und Rechtfertigung ihrer aggressiven Ideologien in Völkerwanderungszeit und Mittelalter suchten. Die Germanen mussten in Deutschland als tapfere, edle Vorfahren und Vorbilder herhalten, in Frankreich und Italien hingegen als grausame Feindbilder. Die Forschungsgeschichte ist keineswegs frei von solchen Tendenzen, die oft ganz gegen die Quellen mit großer Überzeugungskraft vertreten wurden. Kein(e) HistorikerIn ist frei von zeitgebundenen Herangehensweisen; wichtig ist aber, dass man sich über die Bedingtheit des Interesses an der Vergangenheit Rechenschaft ablegt. Dieser Herausforderung versucht sich das Institut für Mittelalterforschung zu stellen.