03.10.2024 | Krieg in Osteuropa

Ukraine: Was hinter der Offensive auf russischem Boden steckt

Der ukrainische Vorstoß in die russische Region Kursk hat die Dynamik des Krieges verändert. Osteuropa-Historiker und ÖAW-Mitglied Wolfgang Mueller erläutert die strategischen Ziele der Ukraine und die innenpolitischen Folgen für Russland.

Der Krieg in Osteuropa geht mit unverminderter Härte weiter. © AdobeStock

Mit der Besetzung der russischen Region Kursk hat die Ukraine den Krieg in den Sommermonaten direkt auf russisches Territorium getragen – ein unerwarteter Schachzug in einem langwierigen Konflikt. Im Gespräch erklärt der Osteuropa-Historiker Wolfgang Mueller, Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und stellvertretender Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien, warum eine dauerhafte Annexion russischer Gebiete für die Ukraine keine Option ist. Mueller beschreibt die militärischen und politischen Ziele der Besetzung, von der Schwächung der russischen Offensive bis zur Vorbereitung von Waffenstillstandsverhandlungen. Die ukrainische Offensive gilt als Schmach für den Kreml, die jedoch aufgrund der staatlichen Kontrolle in der russischen Öffentlichkeit nicht diskutiert wird, so der Osteuropa-Experte. Für die Ukraine bleibt die westliche Unterstützung entscheidend – aber reichen die bisherigen Maßnahmen aus?

Die Ukraine hat im Sommer den Krieg nach Russland getragen und Teile der russischen Region Kursk besetzt. Zumeist werden militärische Erwägungen als Motive dafür genannt. Wäre eine dauerhafte Annexion dieses Gebiets durch die Ukraine für Sie in irgendeiner Weise vorstellbar und zu rechtfertigen?

Wolfgang Mueller: Nein, eine dauerhafte Annexion russländischer Gebiete durch die Ukraine ist laut öffentlichen Erklärungen weder beabsichtigt noch hätte sie eine Rechtsgrundlage. Die Besetzung dürfte vor allem die Ziele verfolgen, den russischen Angriff im Donbass zu bremsen, dem Kreml zu signalisieren, dass der Krieg auch für Russland weitere Konsequenzen haben kann als „nur“ den Verlust zigtausender Soldaten, und Tauschmaterial für Waffenstillstandsverhandlungen zu gewinnen.

Blamage für Russland

Die Tatsache, dass ukrainische Truppen auf russischem Boden stehen, wird in vielen westlichen Medien als Schmach für Wladimir Putin betrachtet. Inwiefern stellt der ukrainische Vormarsch innenpolitisch ein Problem für den russischen Präsidenten dar?

Mueller: Selbstverständlich stellt das Unvermögen Russlands, das Eindringen zu verhindern oder aber rasch zu beenden, eine Blamage für dessen Geheimdienst, Armee sowie Staatsführung dar. In Russland gibt es aber keine Freiräume mehr, um öffentlichkeitswirksam darauf hinzuweisen.

Eine legale Oppositionstätigkeit ist im Lande nicht mehr möglich.

Die mediale Öffentlichkeit wird in Russland staatlich kontrolliert. Viele Regimegegner:innen wurden mundtot gemacht oder sind ins Ausland geflohen. Welchen Einfluss kann unter diesen Umständen eine politische Opposition entfalten?

Mueller: Dissens, Opposition und Widerstand, ja selbst Kinderzeichnungen mit der Aufschrift „Gegen den Krieg“, werden unterdrückt bzw. verfolgt. Alexei Moskaljow wurde 2023 zu zwei Jahren Straflager verurteilt, weil seine Tochter eine solche Zeichnung angefertigt hatte, 2024 wurde die Strafdauer reduziert. Im August starb der 39-jährige Pianist Pawel Kuschnir, der in einem Video die Kriegsverbrechen von Butscha kritisiert hatte, in Haft während eines Hungerstreiks. Eine legale Oppositionstätigkeit ist im Lande nicht mehr möglich.

Russisches Vorrücken in der Ostukraine

Der Widerstandswille der großen Mehrheit ist nach wie vor hoch.

In der Ostukraine rückt Russland stetig vor. Was macht das mit dem Widerstandswillen der Ukrainer:innen?

Mueller: Natürlich sind auch viele Menschen in der Ukraine vom Krieg erschöpft. Meinungsumfragen des Kiewer Instituts für Soziologie vom Juni zeigen, dass die große Mehrheit Frieden wünscht. Der Anteil jener, die zu diesem Zweck bereit wären, Gebietsabtretungen zu akzeptieren, ist seit Kriegsbeginn von 10 auf 32 Prozent gestiegen. Die Mehrheit von 55 Prozent steht dem aber weiter ablehnend gegenüber. Sie befürchten, dass dies die Aggression Russlands nur temporär unterbrechen würde. Als Kriegsziel Russlands identifizieren insgesamt 84 Prozent verschiedene Formen der Zerstörung der Ukraine als unabhängige Nation. Das macht es für die meisten schwierig zu hoffen, dass Gebietsabtretungen den Krieg beenden, und daher ist der Widerstandswille der großen Mehrheit nach wie vor hoch.

Unterstützung aus dem Westen

Leistet der Westen der Ukraine genug Unterstützung, um den Krieg gegen Russland überleben zu können?

Mueller: Würde die Verteidigung der Ukraine zusammenbrechen, wäre die Ukraine Russland ausgeliefert und die Aussicht auf einen nachhaltigen Frieden in Europa schlecht. Die westliche Unterstützung ist daher für die Ukraine überlebensnotwendig. Die Hilfsbereitschaft variiert aber beträchtlich: Laut Kieler Institut für Weltwirtschaft beträgt die bilaterale Regierungshilfe aus Estland 1,65 Prozent des BIP, aus Schweden 0,76, aus Österreich 0,18. Hinzu kommen Mittel via EU-Schiene und private Spenden. Gesamtwirtschaftlich sind dies für die westlichen Staaten eher geringe Beträge.

Das kostet viele Menschenleben, die mit rascherer Hilfe vielleicht gerettet hätten werden können.

Die Ukraine ist für diese Hilfe klarerweise sehr dankbar. Laut Militärexperten wie Markus Reisner, Oberst bei der Theresianischen Militärakademie, ist sie aber nicht ausreichend und kommt nicht rasch genug, um die Ukraine zu ermächtigen, den Angriff effizient beenden zu können. Im Gegenteil hat das westliche Zögern 2022 der russischen Armee erlaubt, ihre Stellungen im Süden des Landes zu befestigen. Danach kam die Munition so langsam, dass die Verteidiger die Angreifer nur auf Distanz halten konnten. Heute trägt das Zögern dazu bei, dass russische Waffen ungehindert auf die Krim kommen und damit den Krieg verlängern. Das kostet viele Menschenleben, die mit rascherer Hilfe vielleicht gerettet hätten werden können.

Und auf politischer Ebene?

Mueller: Auch politisch könnte der Westen mehr tun, etwa durch Sicherheitsgarantien zumindest für die nicht besetzten Teile der Ukraine. Das könnte einen Waffenstillstand bedeutend beschleunigen.

Heute bezeichnet Russland der kollektiven Westen als Gegner. Es geht daher um mehr als das Donbass oder sogar die Ukraine. Es geht auch darum, ob freie Demokratien in der Lage sind, die Aggression einer Diktatur gegen eine friedliche Demokratie und die bestehende Sicherheitsordnung abzuweisen. Sind sie das nicht, sind negative Folgen für Demokratie und Sicherheit weltweit erwartbar.

Chance von Friedensinitiativen

In Bezug auf einen baldigen Frieden bin ich aber leider skeptisch.

Von unterschiedlichen Seiten werden immer wieder Initiativen für Friedensverhandlungen gestartet, zuletzt hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz laut über eine Friedenskonferenz mit Russland nachgedacht. Sehen Sie Chancen auf einen baldigen Frieden?

Mueller: Derartige Initiativen und sogar direkte sowie zuletzt indirekte Verhandlungen gab es schon mehrere, leider bisher ohne Erfolg. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyjselbst hat davon gesprochen, dass er Russland bald zu einer großen Friedenskonferenz einladen wolle. Es gibt einen ukrainischen Friedensplan, ja sogar einen chinesischen, der ebenfalls die völkerrechtsbasierte territoriale Integrität aller Beteiligten, somit auch der Ukraine, zur Grundlage nimmt. In Bezug auf einen baldigen Frieden bin ich aber leider skeptisch. Wladimir Putin hätte es in der Hand, den Krieg sofort zu beenden. Da es aber keine Anzeichen gibt, dass er sich bald dazu entschließt, hängen die Dauer und das Ergebnis des Krieges von der Entwicklung an der Front und bei den Ressourcen ab. Somit bedarf die Ukraine in ihrer Verteidigung weiter der westlichen Unterstützung.

 

Auf einen Blick

Wolfgang Mueller ist Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und stellvertretender Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er forscht unter anderem zur Geschichte Russlands bzw. der Sowjetunion, zum Kalten Krieg sowie zur Wahrnehmungsgeschichte und zur Geschichte des Politischen Denkens.