30.05.2024 | China

Maos geheimer Masterplan

Für Chinas "Dritte Front" ließ der Staatsführer Mao Zedongim 20. Jahrhundert gigantische Industrieanlagen in abgelegenen Gebirgsregionen errichten. Was dahinter steckt und welche Folgen dieser Gewaltakt hatte, schilderte die Sozialanthropologin Fang Zhang an der ÖAW.

Das chinesische Gansu - eine der Regionen, die im Zentrum der Anstrengungen der "Dritten Front" stand. © AdobeStock

In den 1960er Jahren lagen Chinas Wirtschafts- und Bevölkerungszentren geballt an der chinesischen Ostküste – exponiert im Fall möglicher Angriffe von außen. Auch deshalb rief Mao Zedong einen zentral gesteuerten Masterplan aus, der Abhilfe schaffen sollte: die sogenannte „Dritte Front“. Erst vor wenigen Jahren öffnete China seine Archive für Forschende, die sich nun mit den Folgen dieser lang geheim gehaltenen Offensive befassen. Eine davon ist die Sozialanthropologin Fang Zhang: Sie stellte ihre Forschungen und erste Erkenntnisse kürzlich am Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) vor. Einblicke in die Untersuchungen gibt sie im Gespräch.

Kriegsgefahr und Entwicklungsgefälle

Ihr Fachgebiet ist die sogenannte „Dritte Front“, eine großangelegte Aktion, bei der Mao Zedong in den späten 1960er Jahren Industrie- und Verteidigungsanlagen in unwegsamen Gebirgsregionen errichten ließ. Das klingt zunächst abwegig: Was war der Gedanke dahinter?

Fang Zhang: Diese Frage wird von der Forschung noch diskutiert. In den 1960er Jahren verschlechterten sich die Beziehungen zwischen China und der Sowjetunion. Die lange Grenze zwischen beiden Ländern im Nordwesten Chinas schien plötzlich Gefahrenpotential zu bergen. Als ebenfalls in den 1960er Jahren Süd-Vietnam die USA um Unterstützung bat, sah Mao zudem eine Kriegsgefahr an der nördlichen und südlichen Grenze sowie in der östlichen Küstenregion, die von der US-Navy bedroht wurde. Darum entschied er, wesentliche Infrastruktureinrichtungen weg von der Küste ins bergige Hinterland zu versetzen. Im Fall einer Invasion oder eines Beschusses von der Küste, wäre nicht alles auf einen Schlag zerstört worden.

Dazu kam das wirtschaftliche Entwicklungsgefälle zwischen Chinas Osten und Westen. Als Kommunist war Mao bemüht, dieses auszugleichen.

Innerhalb weniger Jahre wurden gigantische Industrieanlagen in abgelegenen Gebirgsregionen errichtet und Arbeiter dort angesiedelt: Welche Auswirkungen hatte das für die Zugezogenen und welche für die bereits ansässige Bevölkerung?

Zhang: Das ist genau die Frage, mit der ich mich als Sozialanthropologin befasse. In meinen Interviews mit älteren Arbeiterinnen und Arbeitern habe ich erfahren, dass sie damals aus Peking, Shanghai, all diesen gut entwickelten Großstädten in die isolierten, abgelegenen  Berggegenden kamen. Sie folgten damals als Freiwillige dem Aufruf Maos, das Hinterland zu entwickeln.

Wie viele Menschen zogen auf diese Art um?

Zhang: Schätzungen gehen von 8,6 Millionen mobilisierten und rund vier Millionen umgesiedelten Menschen aus.

Als in den 1960ern die Arbeiter kamen, gab es nur wenige Bewohner dort.

Und wie hat die Landbevölkerung auf die Neuankömmlinge reagiert?

Zhang: Hier kann ich vor allem über die Stadt sprechen, die ich erforsche: Kaili. Hier war zuvor ein dünn besiedeltes Reisanbaugebiet. Keili hat sich erst in den 1950er Jahren entwickelt. Als in den 1960ern die Arbeiter kamen, gab es nur wenige Bewohner dort.

Sie haben um das Jahr 2006/07 mit ihrer Forschung an der Dritten Front begonnen, aber auch insgesamt hat die Forschung zu diesem Thema erst dann Fahrt aufgenommen. Liegt das auch daran, dass Quellen erst zu diesem Zeitpunkt zugänglich wurden?

Zhang: Ja – genau, die Kommunalarchive haben die Unterlagen zur „Dritten Front“ erst in den letzten zehn, zwanzig Jahren für die Forschung freigegeben. Ich hatte Glück, denn ich hatte eine Fabrik für meine Forschung gewählt, die in ein Begegnungszentrum umgewandelt wurde – und das gewährte mir Zugang zu seinem Archiv.

Ich höre mir die Geschichten der Menschen an, die in der Regel froh sind, mir von früher zu erzählen.

Als Sozialanthropologin interessieren Sie sich aber wahrscheinlich auch für die „inoffiziellen“ Überlieferungen: Oral History, Homemovies, Tagebücher oder Fotoalben?

Zhang: Auf jeden Fall. Es gibt viele Memoiren aus der Arbeiterschaft, die auch veröffentlicht werden. An Tagebücher gelange ich seltener. Fotoalben sehe ich oft und dokumentiere sie. Was Filme betrifft: Die Regierung hat in den 60er Jahren Filmteams zu den neuen Fabriken geschickt. Leider wird dieses Material von der Regierung verwahrt und ich habe keinen Zugang dazu. Eine wichtige Quelle sind meine eigenen Interviews – ich höre mir die Geschichten der Menschen an, die in der Regel froh sind, mir von früher zu erzählen. Schließlich sind die meisten Fabriken inzwischen Geschichte. Die älteren Arbeiter freuen sich, wenn ich ihre Leistung, die sie für den ökonomischen Aufschwung Chinas erbracht haben, dokumentiere.

Spurensuche

Welche Spuren hat die „Dritte Front“ sonst in Kaili hinterlassen?

Zhang: Ursprünglich gab es zehn Fabriken, die elektronische Geräte hergestellt haben, Krankenhäuser und Schulen. Nur eine der Fabriken ist heute noch in Betrieb. Sechs haben komplett geschlossen. Drei haben ihre Produktion in größere Städte verlagert.

Wie überleben die Bewohner dieser 547.000-Einwohner Stadt ökonomisch?

Zhang: Die Transformation war tatsächlich schwierig. Diese Stadt war einmal Chinas Zentrum für die Produktion elektronischer Geräte. Bis die Regierung entschied, dass man in dieser Region lieber den Tourismus fördern solle. Damals hatten die Arbeiter das Gefühl, dass ihre Aufbauarbeit vergessen worden war.

Wie kann man sich aktuell die Bevölkerung dieser Stadt vorstellen, haben durch den gleichzeitigen Zuzug viele ein ähnliches Alter?

Zhang: Die meisten Arbeiter kamen in den späten 1960er Jahren und waren damals Anfang Zwanzig. Entsprechend sind sie jetzt zwischen 60 und 70 Jahre alt. Das ist die überwiegende Mehrheit der Bewohner dieser „Third Front“-Städte. Die damals gegründeten Fabriken räumten Kindern das Recht ein, ganz unabhängig von ihrer Ausbildung die Jobs der Eltern zu übernehmen. Diese Kinder nannten sich die Zweite Generation der Dritten Front. So ist eine weitere Altersgruppe entstanden, die jetzt zwischen 40 und 50 ist. Es gibt auch eine Dritte Generation, wobei die viel schwächer vertreten ist – denn viele Kinder der Kinder haben die alten Industriestädte verlassen, um in größeren Städten Arbeit zu suchen.

Ich glaube schon, dass all diese Maßnahmen zur späteren Industrialisierung beigetragen haben.

Aktuell ist China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und hat besonders in den 1970er Jahren ein bemerkenswertes Wirtschaftswachstum hingelegt: Hat Maos „Dritte Front“ rückblickend zu dieser Entwicklung beigetragen?

Zhang: Das ist eine spannende Frage, die in der Forschung kontrovers diskutiert wird. Einige sind der Meinung, dass Mao viel Geld und Arbeitskraft vergeudet hat, indem er die gut ausgebildete Jugend von den Städten abzog und zur körperlichen Arbeit aufs Land abkommandierte. Andere Forscher argumentieren, dass Mao mit diesen Maßnahmen komplett neue, industrielle Strukturen in China etablieren und sich so von Importen – etwa aus Russland – unabhängig machen konnte. So habe er das Fundament für spätere Industrialisierungsstufen unter der Regierung von Deng Xiaoping gelegt.

Zu welcher dieser Sichtweisen tendieren Sie persönlich?

Zhang: Ich glaube schon, dass all diese Maßnahmen zur späteren Industrialisierung beigetragen haben. Ganz sicher haben sie geholfen, bestimmte abgelegene Regionen des Südwestens schneller zu entwickeln – allein, weil plötzlich so viele gut ausgebildete Menschen kamen:  Techniker, Elektriker aus Shanghai und Peking. Schulen, auch Colleges wurden dort gegründet, die auch der lokalen Bevölkerung offenstanden.

 

Auf einen Blick

Fan Zhang ist – nach einem MA in Chicago und einem PhD am Max-Planck-Institut in Halle / Universität Leipzig – außerordentliche Professorin an der Fakultät für Soziologie und Sozialanthropologie der Universität Peking. Im März 2024 hielt sie als Gast des Instituts für Sozialanthropologie der ÖAW einen Vortrag in Wien.