24.08.2022 | Mittel- und Osteuropa

Medienfreiheit unter Druck

Warum der Raum für unabhängigen Journalismus und Meinungsfreiheit in Mittel- und Osteuropa weiter schrumpft und wie die Situation durch soziale Medien weiter verschärft wird, erklärt ÖAW-Medienforscherin Krisztina Rozgonyi im Interview.

Ein Mann sitzt mit Kamera während einer Demonstration unter einer Flagge
In vielen ost- und mitteleuropäischen Ländern ist es um die Meinungs- und Medienfreiheit schlecht bestellt. © Pixabay

Unabhängiger Journalismus und Meinungsfreiheit sind eine zentrale Säule der Stabilität von Demokratien. In vielen Staaten Mittel- und Osteuropas konnten sie diese Funktion jedoch seit der Öffnung der Medienmärkte vor rund 30 Jahren nur eingeschränkt ausüben. Welche Hintergründe das hat, warum soziale Medien die in sie gesteckten Hoffnungen nicht erfüllen und welche Bedeutung all das für den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine hat, schildert Krisztina Rozgonyi, Medienwissenschaftlerin am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Klagenfurt.

Gelenkte und gekaperte Medien

Wie ist es um Medienvielfalt und Meinungsfreiheit in Mittel- und Osteuropa bestellt?

Krisztina Rozgonyi: Die digitalen Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa sind in einen historisch gewachsenen, instabilen und politisch manipulierten Kontext eingebettet. Der öffentliche Dialog wird von staatlich gelenkten und gekaperten privaten Medien kontrolliert.  Durch die geballte Macht der sozialen Medien wird dieser Effekt noch verstärkt. Inzwischen erleben die Bürger/innen in diesen Ländern die Alltagswirklichkeit durch verzerrte Kommunikationskanäle, was ich als mehrere Schichten der Zensur bezeichne.

Wie ist es zu diesen verzerrten Kommunikationskanälen gekommen?

Rozgonyi: In Anbetracht der derzeitigen Situation müssen wir die politischen und regulatorischen Bedingungen rund um die Öffnung der Medienmärkte vor 30 Jahren berücksichtigen. Die öffentliche Sphäre in Mittel- und Osteuropa sollte mit Beginn der Demokratisierung von der staatlichen Kontrolle befreit werden. Die Zensur de iure wurde aufgehoben und das Recht auf freie Meinungsäußerung in den Verfassungen verankert. In Anlehnung an libertäre Theorien über die Redefreiheit wurde die Lehre von der freien Meinungsäußerung als ein herausragendes Grundrecht interpretiert. Generationen von jungen Jurist/innen – mich eingeschlossen – wurden dazu erzogen, an die Macht der Wahrheit zu glauben, die sich auf dem befreiten Markt der Ideen durchsetzen sollte.

Die systematische Kommerzialisierung und Privatisierung der Meinungsfreiheit im Sinne der sogenannten Marktlogik hatte einen hohen Preis."

Was bedeutet das?

Rozgonyi: Wir sollten neue Gesetze entwerfen, die hauptsächlich darauf abzielten, alle möglichen Beschränkungen für den Empfang und die Weitergabe von Informationen zu beseitigen. Dies geschah ohne parallel eine demokratisch gesteuerte Meinungsfreiheit zu stärken – und ohne die gesellschaftlichen Risiken einer marktgesteuerten Meinungsfreiheit zu bedenken. Dieser neoliberale marktorientierte Ansatz führte zu einer strategischen „Nichteinmischung“ des Staates, die sich negativ auf die Medienfreiheit auswirkte. Die systematische Kommerzialisierung und Privatisierung der Meinungsfreiheit im Sinne der sogenannten Marktlogik hatte einen hohen Preis und verursachte spürbare Schäden.

Investoren und Oligarchen

Die Öffnung der Medienmärkte zog auch westliche Investoren an. Mit welchen Folgen?

Rozgonyi: Westliche Investoren unterlagen nicht den gleichen rechtlichen, ethischen und politischen Kriterien wie in ihren Herkunftsländern, etwa in Bezug auf Arbeitsbedingungen und entsprechenden Sicherheitsgarantien, ethische Standards für Journalisten und viele andere Dinge. Großinvestoren konnten sich ihrer Verantwortung als Akteure in einer demokratischen Gesellschaft entziehen und fast ungehindert Profite machen. Viele von ihnen haben die Region für ihre wirtschaftlichen Gewinne missbraucht.

Nach der Finanzkrise 2008 hat sich die Mehrheit zurückgezogen und ihren Marktanteil zumeist an lokale Oligarchen verkauft ohne dabei an die Einhaltung von Vorschriften oder ihre Verantwortung zu denken. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind diese Muster immer noch vorherrschend und machen die Medien in Mittel- und Osteuropa zu einem großen Teil rechenschaftslos.

Soziale Medien

Welche Rolle spielt der digitale Wandel in dieser Entwicklung?

Rozgonyi: Die Entstehung einer digitalen Öffentlichkeit sollte die Zukunft eines freien Journalismus sein. Aber das ist im Allgemeinen nicht geschehen. Stattdessen wurde die Öffentlichkeit anfällig für gezielte Desinformation und Propaganda im Internet. Der digitale Kommunikationsraum als ein „terra nullius“ bildete auch einen fruchtbaren Boden für die Verbreitung von ethnischem Hass und geschlechtsspezifischer Gewalt. Und die algorithmusgesteuerte Moderation der Inhalte im Internet hat dies weiter verstärkt.

Die wenigen unabhängigen Medien kämpfen heute ums Überleben."

Wie geht es den unabhängigen Medien?

Rozgonyi: Die wenigen unabhängigen Medien kämpfen heute ums Überleben. Im Pressesektor ringen neu gegründete und durch Crowdfunding finanzierte digitale „Nomaden“, die ausschließlich online tätig sind, nach Luft und sind vollständig auf die Plattformen der sozialen Medien angewiesen.

Und die öffentlich-rechtlichen Kanäle?

Rozgonyi: Die öffentlich-rechtlichen Medien haben den Wandel von staatlichen zu öffentlich-rechtlichen Medien nie vollzogen, sondern fungierten als Agenten und Subjekte eines 30 Jahre dauernden Übergangs. Anstatt die Öffentlichkeit zu informieren, werden sie in vielen Fällen als politische Kommunikationskanäle missbraucht, sogar für die Verbreitung von Propaganda.

Recht auf Meinungsfreiheit leidet

Welche Auswirkungen hat das auf die Meinungsfreiheit und Medienvielfalt?

Rozgonyi: Unter diesen Umständen leidet das Recht auf freie Meinungsäußerung sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Der Verlust eines offenen, inklusiven und sicheren digitalen öffentlichen Raums hat ethnische Spaltungen aufrechterhalten und untergräbt den demokratischen Zusammenhalt – und letztlich auch den Frieden.

Wie fatal diese Entwicklung ist zeigen die jüngsten Angriffe auf die Medien in Ungarn, Polen und Slowenien. Aber auch Lage in den westlichen Balkanstaaten zeigt, wie der missbräuchliche Mediengebrauch Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen schüren.

Die digitale Öffentlichkeit ist einer der Schauplätze, auf denen sich dieser Krieg entfaltet hat."

Apropos Medienmissbrauch und Konflikte. Wie Desinformation und Zensur einen Krieg befeuern können, sehen wir gegenwärtig in Russland und der Ukraine. 

Rozgonyi: Die digitale Öffentlichkeit ist einer der Schauplätze, auf denen sich dieser Krieg entfaltet hat. Informationsmanipulation, Hass im Internet und digitale Propaganda für den Krieg begleiteten von Anfang an die Aggressionen. Traditionelle Medienkanäle lieferten den Rahmen für die Erzählungen. Und die Dominanz der Meinungsmacht digitaler Plattformen wurde demonstriert.

Gerade jetzt, in dieser Phase des digitalen Wandels, könnten die daraus gezogenen Lehren die nächsten Schritte bestimmen. Die aktuelle öffentliche Debatte und die Aufregung um die Übernahme von Twitter durch Elon Musk ist ein gutes Beispiel für den bedingungslosen neoliberalen Medienkontext und den Missbrauch der Redefreiheit. Wir sehen auch die traumatischen Folgen einer neoliberal-marktgesteuerten Meinungsfreiheit. Pluralismus und Vielfalt haben hier keinen Stellenwert. Wir müssen hier dringend umdenken!

 

AUF EINEN BLICK

Krisztina Rozgonyi forscht am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Klagenfurt. Mit ihrer Expertise im Bereich der internationalen Medienpolitik, Verwaltung von Medien und digitalen Plattformen sowie der Informationspolitik und -regulierung berät sie internationale und europäische Organisationen, nationale Regierungen sowie Regulierungsbehörden, unter anderem war sie für die OSZE als Expertin für Künstliche Intelligenz und Medienpluralismus tätig.