31.05.2024 | Stadtgeschichte

Die älteste Stadtansicht von Steyr gibt Rätsel auf

Ein bislang wenig erforschtes Gemälde aus dem Jahr 1548 zeigt eine unglaublich detailreiche Ansicht von Steyr. Sophie Morawitz, Kunsthistorikerin und Stipendiatin der ÖAW, erklärt im Gespräch, welche Fragen dieser spannende Fund aufwirft.

Porträt von Coloman Dorninger und seiner Familie, 1548. © Staatliche Burg Pernštejn, Inv.-Nr. PE01880a, Národní památkový ústav (Nationales Denkmalinstitut, Arbeitsstelle Brno), Aufnahme: Martin Kučera

In der tschechischen Burg Pernštejn hängt ein Gemälde aus dem Jahr 1548, das lange unerforscht blieb: Es zeigt eine Familie vor einer historischen Stadtansicht. Dank einer länderübergreifenden Recherche, an der auch Sophie Morawitz – Kunsthistorikerin an der Universität Wien und Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) – beteiligt ist, konnte nun geklärt werden, dass es sich auf dem Gemälde um den Steyrer Stadtrichter Coloman Dorninger und seine Familie handelt. Im Hintergrund ist die älteste Ansicht der Stadt Steyr abgebildet, samt Pfarrkirche St. Ägidius und Koloman.  Überraschenderweise sind auch Bauwerke wie das obere Ennstor und das Dominikanerkloster zu sehen, die bei einem Großfeuer 1522 schwer beschädigt wurden.

Bisher wurde vermutet, dass sie erst im 17. Jahrhundert erneuert worden waren. Ist also die Stadtgeschichte von Steyr neu zu schreiben? „Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wie realistisch dieses Gemälde ist. Und, was es uns konkret erzählen möchte“, sagt Morawitz im Gespräch. Wichtige Fragen sind nach wie vor offen.

Neuschreibung der Stadtgeschichte?

Wie wurde das Gemälde mit der Ansicht von Steyr gefunden?

Sophie Morawitz: Es hängt schon lange in der tschechischen Burg Pernštejn in der Nähe von Brünn. Es war allerdings nicht klar, was darauf zu sehen ist. Dass es endlich geklärt wurde, geht auf die Initiative von Zdeněk Vácha zurück, einem Mitarbeiter des Nationalen Denkmalinstituts (NPÚ), der dieses Gemälde genau untersucht hat.  Dank der drei Wappen im unteren Abschnitt hat er herausgefunden, dass es sich um den Bürger Coloman Dorninger handelt, der sich und seine Familie 1548 malen hat lassen. Darauf zu sehen sind seine 20 Kinder, seine verstorbene und seine aktuelle Ehefrau.

Es hat aber ein wenig gedauert, bis mir klar wurde, wie brisant diese Entdeckung ist.

Wie ist der Kontakt zu Ihnen zustande gekommen?

Morawitz: Wir kennen uns seit Jahren über gemeinsame Forschungsinteressen. Ich schreibe meine Dissertation über die Steyrer Stadtpfarrkirche, die schön auf dem Gemälde zu sehen ist. Er hat mir eine Aufnahme des Tafelbildes gemailt. Es war ein unglaublicher Moment, diesen Detailreichtum des Bildes zu sehen. Es hat aber ein wenig gedauert, bis mir klar wurde, wie brisant diese Entdeckung ist. Dass wir es mit der nunmehr ältesten Stadtansicht von Steyr zu tun haben, ist mir erst einen Tag später klar geworden.

Realismus vs. Fantasie

Auf dem Gemälde sind auch verstorbene Familienmitglieder abgebildet. Kann man davon ausgehen, dass die Stadtansicht tatsächlich realistisch in unserem heutigen Sinn ist?

Morawitz: Im Verständnis von uns modernen Menschen hat das natürlich wenig mit Realismus zu tun. Im Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit war es für gehobene Schichten sehr wichtig, sich ein Denkmal zu setzen. Heute würde man ein Foto machen, damals waren Familienporträts eine Möglichkeit, sich für die Nachwelt zu verewigen. Und das meist in einem öffentlichen Raum. Dementsprechend ist es wahrscheinlich, dass es für einen Sakralraum der Stadt, vielleicht sogar für die Grabstätte der Familie, angefertigt wurde. Dass alle Familienmitglieder, ob lebendig oder verstorben, darauf zu sehen sind, sollte uns also nicht an der Realitätstreue der Stadtansicht zweifeln lassen.

Heute würde man ein Foto machen, damals waren Familienporträts eine Möglichkeit, sich für die Nachwelt zu verewigen.

Was ist über die Darstellung von Steyr gesichert zu sagen?

Morawitz: Die Datierung von 1548 ist ein Glücksfall, oft wissen wir nicht, wann Gemälde entstanden sind. Die Stadtpfarrkirche ist genauso zu sehen, wie sie zum damaligen Zeitpunkt ausgesehen hat. Darauf verweisen viele Berichte der Stadt, aber auch Rechnungen. Man erkennt kein großes Ziegeldach, wie man vermuten würde, sondern farblich abgehobene Schindeldächer – vermutlich zur Überbrückung, weil im Zuge des Stadtbrandes das große Dach abgebrannt ist und man daran gearbeitet hat, ein neues zu machen. Das war ein großer finanzieller Aufwand, man musste auf Spenden warten, was gedauert hat. Es sind aber auch viele Gebäude zu sehen, welche nach aktuellem Forschungsstand zu diesem Zeitpunkt nicht so vorhanden gewesen sein dürften.

Schwierige Quellenlage

Was bedeutet das für die Stadtforschung?

Morawitz: Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten. Hat man die Quellen bisher falsch interpretiert oder könnten diese die Lage gar verzerrt wiedergeben? Letzteres wäre typisch für Übergangszeiten, dass die Leistungen des Mittelalters bewusst degradiert werden, um diejenigen der Renaissance größer erscheinen zu lassen. Vielleicht zeigt es die Stadt also tatsächlich so wie sie zum damaligen Zeitpunkt war, vielleicht aber auch nicht zur Gänze. Einige Gebäude könnten mit Stiftungen der porträtierten Familie verbunden gewesen sein, die man natürlich nicht ruinös darstellen wollte. Oder der Künstler arbeitete nach Zeichnungen der Stadt, die veraltet waren. Wir wissen nicht, wo dieses Gemälde entstanden ist. Nach Rücksprache mit Expert:innen für diese Epoche, handelt es sich wahrscheinlich um einen süddeutschen Maler. War er tatsächlich in Steyr? Oder hat er nach sehr konkreten Zeichnungen gearbeitet? Wenn man reinzoomt, hat man fast das Gefühl, man steht vor einer Fotografie. Allein über Beschreibungen wäre dieser Detailreichtum nicht möglich gewesen.

Zentrale Fragen sind offen, nicht nur, wer das Bild gemalt hat. Auch Symbole müssen wir erst interpretieren.

Der Krimi, was dieses Gemälde erzählt, ist also erst zu lösen?

Morawitz: Absolut. Zentrale Fragen sind offen, nicht nur, wer das Bild gemalt hat. Auch Symbole wie die Rosen am Tisch müssen wir erst interpretieren. Spannend ist auch die Häuserstruktur der Stadt, über die man viel über das Stadtbild der damaligen Zeit erfahren kann. Wir stehen noch ganz am Anfang unserer Arbeit, die stark auf Teamwork setzt. Dieser Fund hat gezeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinweg ist.

 

AUF EINEN BLICK

Sophie Morawitz ist Kunsthistorikerin an der Universität Wien und DOC-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Nach dem Studium der Kunstgeschichte an der Universität Wien sowie Mitbelegung des Bachelorstudiums Architektur, beschäftigte sie sich unter anderem mit Bauforschung und Denkmalpflege an der Technischen Universität Wien. Sie forscht derzeit zur Stadtpfarrkirche St. Ägidius und Koloman in Steyr.