12.07.2024 | Ausstellung

Der globale Krieg

Der Erste Weltkrieg brachte 90 Prozent der Weltbevölkerung in den Kriegszustand und forderte rund 16 Millionen Menschenleben. Eine Ausstellung an der ÖAW zeigt bisher wenig bekannte Hintergründe dieses globalen Konflikts. Im Interview schildert der Kurator und ÖAW-Historiker Arnold Suppan, warum der Krieg anders als alle davor waren und wie schwer er auch die Zivilbevölkerung traf.

Verwundete belgische Soldaten 1914 in Calais. © Wikimedia Commons

Am 28. Juli 1914 begann mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien der Erste Weltkrieg. In den darauffolgenden Jahren fielen dem bis dahin grausamsten Krieg der Geschichte rund 16 Millionen Menschen zum Opfer.

In Erinnerung an den häufig als "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichneten Krieg zeigt die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) bis zum 23. August 2024 die von ÖAW-Mitglied Arnold Suppan kuratierte Ausstellung "Habsburgermonarchie im Ersten Weltkrieg". Öffentlich und frei zugänglich, werden darin unterschiedliche Aspekte des Krieges, von den militärischen Verlusten über die Ernährungslage der Zivilbevölkerung bis hin zu den politischen Entwicklungen, thematisiert. Im Gespräch erklärt Suppan, Historiker und früherer Vizepräsident der ÖAW, unter anderem, wieso der Krieg viel mehr als eine Auseinandersetzung zwischen einzelnen Mächten war, sondern als tatsächlich globaler Krieg betrachtet werden muss.


Inwieweit war der Erste Weltkrieg anders als die Kriege davor?

Arnold Suppan: Der Erste Weltkrieg war nicht vergleichbar mit Kriegen wie dem Russisch-Japanischen Krieg, dem Deutsch-Französischem Krieg oder dem Preußisch-Österreichischen Krieg. Diese Kriege des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren im Wesentlichen bilateral, betrafen die Zivilbevölkerung nicht nachhaltig und waren nach höchstens einem Jahr vorbei. Der Erste Weltkrieg dagegen wurde sehr schnell zu einem globalen Krieg: Innerhalb von vier Wochen waren zwei Drittel der Weltbevölkerung in einem Kriegszustand. Man muss schließlich bei den Mächten Großbritannien, Frankreich, Deutschland und auch Japan deren Dominien und Kolonien dazurechnen, die im Verlauf des Ersten Weltkrieges zum Teil auch Soldaten nach Westeuropa geschickt haben. Zum globalen Krieg gehörten auch die Auseinandersetzungen auf den Weltmeeren und die alliierte Seeblockade gegen die Mittelmächte.

Über den gesamten Verlauf des Krieges gab es übrigens nicht weniger als 50 Kriegserklärungen.

Über den Ersten Weltkrieg wurde viel gesagt, publiziert und gezeigt. Von welchen weniger bekannten Aspekten des Krieges können Besucher:innen in der Ausstellung erfahren?

Suppan: Zuerst wird man in der Ausstellung feststellen, wie schnell sich ein scheinbar begrenzter Konflikt, nämlich der zwischen Österreich-Ungarn und Serbien, zu einem Weltkrieg auswuchs. In der Ausstellung ist dazu eine Reihe von Kriegserklärungen abgebildet, bis hin zu den Kriegserklärungen Chinas und der USA gegen Österreich-Ungarn im Jahr 1917. Über den gesamten Verlauf des Krieges gab es übrigens nicht weniger als 50 Kriegserklärungen, im Jahr 1917 waren dann letztlich mehr als 90% der Weltbevölkerung gegeneinander im Kriegszustand.

Bei den Verlusten an Menschenleben – insgesamt 9,5 Millionen Militärtote und 6,5 Millionen Ziviltote – wurde bisher oft auch nicht mitgedacht, wie viele Völker in den jeweiligen Imperien betroffen waren. Wir kennen die elf Nationalitäten innerhalb der k.u.k. Armee, weniger aber die Multinationalität der britischen, französischen und russischen Streitkräfte. Das schließt beispielsweise Soldaten aus Australien und Neuseeland mit ein, die auf der Halbinsel Gallipolli eingesetzt wurden, um als Teil der britischen Armee in Richtung Istanbul vorzustoßen. Und natürlich wurden in der russischen Armee Soldaten von allen Völkern des Zarenreiches eingesetzt, von den Finnen, Weißrussen und Ukrainern bis zu den Tataren und den Transkaukasiern.  

Auch an diesem Aspekt sieht man sehr eindrücklich, wie global dieser Weltkrieg tatsächlich war.

Vor Ausbruch des Krieges reihten sich die Mächte in die Bündnissysteme, Dreibund und Entente, ein. Das Attentat in Sarajewo löste 1914 dann eine Reihe von Kriegserklärungen aus. Könnten Bündnissysteme, auch mit dem Blick auf die Gegenwart, dazu beitragen, dass Konflikte schneller eskalieren?

Suppan: Bündnisse zwischen Mächten gab es schon zuvor, im Dreißigjährigen Krieg, im Spanischen Erbfolgekrieg, im Siebenjährigen Krieg und in den Napoleonischen Kriegen. Ich glaube nicht, dass das Attentat in Sarajewo nur aufgrund der Bündnissysteme zu dem großen Krieg geführt hat, das greift zu kurz, denn es gab keine Verpflichtung des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarn gegen Serbien zu unterstützen, auch keine Verpflichtung Russlands, Serbien zu unterstützen und keine Verpflichtung Großbritanniens, Russland und Frankreich zu unterstützen, von einer Verpflichtung der USA ganz zu schweigen. Vielmehr belauerten sich die Großmächte schon im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, was etwa an den Marokkokrisen zwischen Deutschland und Frankreich oder an der Flottenrüstung zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich zu sehen ist. Für das Misstrauen zwischen Österreich-Ungarn und Russland war schließlich die Annexionskrise 1908/09 entscheidend.

Dieses wechselseitige Belauern, aber auch die Bereitschaft, bei nächster Gelegenheit aufeinander loszugehen, verankerte sich zunehmend in den Köpfen vieler Monarchen, Präsidenten, Ministerpräsidenten, Außenminister und Generalstabschefs. Damit erwiesen sie sich nicht als „Schlafwandler“, sondern als Kriegstreiber! In allen Hauptstädten der Großmächte - einschließlich Serbiens - waren Männer am Werk, für die der Krieg ein kalkulierbares Risiko war, vor dem man nicht zurückscheuen wollte. Aber niemand wusste, was ein Weltkrieg bedeuten könnte.

Kaiser und König Karl versuchte zwar 1917 einige Friedensinitiativen, war aber durch den gemeinsamen Oberbefehl des Deutschen Kaisers und den ungarischen Krönungseid gebunden. Nach der Veröffentlichung des „Sixtusbriefes“ im April 1918 war sein Ruf sowohl bei den Westmächten als auch beim deutschen Bündnispartner ruiniert.

Leiden an der Front und in der Zivilbevölkerung

An der Front war der Krieg grausamer als alles bis dahin Bekannte. Woran lässt sich das festmachen?

Suppan: Das Ausmaß der Grausamkeit hängt eng mit neuen Waffentechnologien zusammen, von Maschinengewehren über Schnellfeuergeschütze bis hin zu Flammenwerfern und Giftgas. Alle diese neuen Waffen führten viel rascher zu Massentötungen. Liest man Berichte aus dem Herbst 1914, als in Galizien österreich-ungarische Regimenter mit aufgepflanztem Bajonett gegen russische Maschinengewehre vorgeschickt wurden und innerhalb von wenigen Stunden ein halbes Regiment tot oder schwer verwundet auf der Kampfstätte lag, versteht man die Wirkung der neuen Waffen – und auch die Grausamkeit der Kriegsführung. Ganz neue Herausforderungen stellte auch der Gebirgskrieg am Isonzo und in den Dolomiten dar.

Dieser Vermögensverlust durch den Ersten Weltkrieg (...) hat aus meiner Sicht maßgeblich zur politischen Radikalisierung in der Zwischenkriegszeit beigetragen.

Wie erging es der Zivilbevölkerung?

Suppan: Die Zivilbevölkerung war sehr früh von den Kriegshandlungen betroffen. Zunächst einmal stellten die Familien sehr schnell fest, wie viele Gefallene und Verwundete es zu beklagen gab; auch die Lazarette im Frontgebiet und im Hinterland füllten sich rasch. Ab dem Frühjahr 1915 trat darüber hinaus infolge großer Ernteausfälle ein großer Mangel an Lebensmitteln zutage, speziell in Wien und anderen großen Städten. Die Regierung traf zwar organisatorische Maßnahmen zur Sammlung und Verteilung von Lebensmitteln, das brauchte aber seine Zeit. Die Ernteerträge betrugen beispielsweise 1916 vielfach nur mehr Hälfte des Umfangs von 1913. Die Versorgungskrise und die Hungerwinter ab 1916/17, samt der Kohlekrise, haben ihren Teil dazu beigetragen, den Zusammenhalt der Habsburgermonarchie von innen her aufzulösen.

Die Zivilbevölkerung in Österreich-Ungarn traf es nach Kriegsende in einer weiteren Hinsicht schwer: Da der Krieg maßgeblich durch Kriegsanleihen finanziert worden war, in die nicht nur Banken, Sparkassen und Rüstungsbetriebe, sondern auch große Teile der Bevölkerung investiert hatten, von reicheren Haushalten über den Mittelstand bis hin zu ärmeren Familien, verloren viele Personen ihre größeren und kleineren Investitionen. Denn zum Kriegsende waren diese Anleihen schlagartig nichts mehr wert. Dieser Vermögensverlust durch den Ersten Weltkrieg, der tatschlich sehr viele Familien betraf, hat aus meiner Sicht maßgeblich zur politischen Radikalisierung in der Zwischenkriegszeit beigetragen.