29.12.2021 | Buchtipp des Monats

ÜBER DIE KULTURGESCHICHTE DER EUROPÄISCHEN MUSIK

Musikhistoriker und ÖAW-Mitglied Gernot Gruber erzählt im Interview zum Buchtipp des Monats die Musikgeschichte Europas und warum sie in enger Abhängigkeit mit den historischen Entwicklungen steht.

© Bayerische Staatsbibliothek München, Res/4 Ded. 145 a#Beibd.12.
© Bayerische Staatsbibliothek München, Res/4 Ded. 145 a#Beibd.12.

Wie ist die Geschichte der Musik mit Religion und Kultus verbunden? Welche Relevanz hatten politische und gesellschaftliche Entwicklungen für die Musikgeschichte Europas? Und welchen Beitrag haben Kunst und Kultur für den Alltag und die Lebensbewältigung im Verlauf der Geschichte gespielt?
Gernot Gruber, Musikhistoriker und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), ist in seinem aktuellen Buch „Kulturgeschichte der europäischen Musik“ diesen Fragen nachgegangen und hat einen fundierten und anspruchsvollen Überblick über die Geschichte der europäischen Musikkultur vorgelegt – von ihren Anfängen in vorgeschichtlicher Zeit bis in die jüngste Gegenwart.

In Ihrem aktuellen Buch beschreiben Sie Musikgeschichte entlang der Zeitgeschichte. Welche neue Perspektive ermöglicht die Einbettung der Musik in ihre sozialen und politischen Umgebungen?

Gernot Gruber: Das ist ein prinzipiell neuer Zugang in der Musikgeschichtsschreibung. Bisher war die Basis die Geschichte der Musik und der Musiktheorie. Ich hingegen gehe von der Sozialgeschichte, von der politischen Geschichte, von der Religionsgeschichte und von der Alltagsgeschichte aus – und versuche dann, die Rolle der Musik und die Funktion der Musik zu erläutern. Ein spannendes Feld darin ist das Eigenleben der Musik, wo Musik als Kunst angestrebt wird. Das steht in prinzipieller Spannung zu den Funktionen der Musik.

Von Haydn bis Mozart

Welche konkreten Spuren hinterlassen historische Ereignisse in der Musik?

Gruber: Nehmen wir den Vormärz: Eine aufgewühlte Zeit der 1840er-Jahre, vor den Revolutionen und der Neuordnung diverser Länder. Und das äußerte sich direkt in der Musik: Hier traten kühne Neuerer auf, die versuchten etwas von dieser Unruhe, die in der Zeit war, umzusetzen.  Komponisten wie Richard Wagner standen selbst auf den Barrikaden. Wagners Musik versucht, all dieses Aufgewühlte in eine neue Art des Musiktheaters umzusetzen.

Die Abhängigkeit ist auch bei Mozart sehr deutlich."

An welchen Personen lässt sich das noch festmachen?

Gruber: Am Beispiel Joseph Haydn sieht man deutlich, wie sehr einerseits die Abhängigkeit von der Politik, vom Staat, aber auch vom Publikum präsent war. Haydn war Hofkapellmeister bei den Fürsten Esterházy und wurde berühmter Komponist in Europa, aber immer in Beziehung auf den jeweiligen Herrscher, der ihn bezahlte. Hier ist die Funktion der Musik völlig klar. Interessant ist etwa, dass Haydn als alter Mann keine Symphonien mehr schrieb, sondern Messen und Kirchenkompositionen für den fürstlichen Hof der Esterházy.

Und bei Mozart?

Gruber: Die Abhängigkeit ist auch bei Mozart sehr deutlich. Als er aus Salzburg nach Wien kam, sagte er, dass er hier im Paradies gelandet sei. Warum? Weil hier eine große Neugierde beim vornehmen Publikum für neue Versuche der Musik vorherrschte. Es war sicher faszinierend, wie Mozart seine Klavierkonzerte spielte. Er hat das immer ein bisschen anders gemacht – und damit natürlich auch Geschäft gemacht. Aufträge für neue Opern erhielt er vom Kaiser selbst.

Mit dem Klang Europas hat man eigentlich die Identität gemeint, die man anhand der Musik zu veranschaulichen versuchte."

Was ist das Europäische in der Musik?

Gruber: Ein Beispiel: Es gibt in Deutschland eine Union der Akademien der Wissenschaften, die jedes Jahr eine Tagung veranstaltet. Im Jahre 2019 wurde als Titel gewählt: „Der Klang Europas – Existiert noch eine Identität Europas?“ Bei der Veranstaltung erklang Musik: Choräle aus dem Mittelalter, Beethoven und moderne Klanginstallation mit dem Titel „liquid borders“. Mit dem Klang Europas hat man eigentlich die Identität gemeint, die man anhand der Musik zu veranschaulichen versuchte. In meinem Buch behaupte ich, dass die globale Verbreitung europäischer Musiktradition, vor allem klassischer Musik, etwas ist, das zusammenhält.

Das Quellenproblem der Musik

Sie beschreiben nicht nur die Geschichte der seit dem 18. Jahrhundert notierten Musik, sondern gehen viel weiter zurück. Wie geht man vor dieser Zeit mit Quellen um?

Gruber: Das ist natürlich ein Riesenproblem für die ganze Musikgeschichtsschreibung. Die klassische griechische Antike kannte eine Art Buchstabennotation. Sie ist elementar, aber dennoch wenig aufschlussreich. Ein Theoretiker und Schüler von Aristoteles, Aristoxenos von Tarent hatte zwei Traktate über Musik geschrieben. Das eine über die Klanggrundlagen, das andere über die Rhythmuslehre. Und am Schluss schreibt Aristoxenos: „Das, was ich hier erklärt habe, ist aber nicht die Musik. Musik wird gemacht.“ Das ist also immer auch ein spontaner Vorgang.

Dass hier Einheit entsteht, daran waren sowohl die Kirche als auch die Fürstentümer interessiert."

Den gregorianischen Chorälen kommt hier eine besondere Rolle zu. Inwiefern?

Gruber: Zur karolingischen Zeit haben sowohl das karolingische Kaisertum als auch die katholische Kirche über die Liturgie und den Kult versucht, Einheit zu schaffen. Da hat man begonnen, mehrstimmige Gesänge als geordneten Tonsatz zu notieren. Solche Noten hat man dann über das Reich bzw. über die Kirche verbreitet. Dass hier Einheit entsteht, daran waren sowohl die Kirche als auch die Fürstentümer interessiert.

Später, etwa in der Renaissance hat man Partituren und Chorbücher notiert. Darin sah man, wie man damals sagte, eine res facta, das heißt ein geordneter Tonsatz. Aber wie die Stimme oder die Instrumente dazu verwendet werden, bestimmt die jeweilige Hof- oder Stadtkapelle. Also: Der Komponist legt dieses Werk nicht fest.

Geschichte als Flaschenpost

In Ihrem Buch schreiben Sie von einer „kritischen Phantasie“, die es in der Erforschung der Musikgeschichte braucht. Wie meinen Sie das?

Gruber: Zum Schluss meines Buches kommt ein Bekenntnis. Ich habe jahrzehntelang Musikgeschichte unterrichtet. Ich habe viel über die Jahrhunderte oder Jahrtausende, der ersten Anzeichen schriftlicher Musikübungen, gesprochen. Aber: Welche Vorstellung kann ich mir aus dieser Zeit machen? Umberto Eco sagt, Geschichte ist wie eine Flaschenpost: Irgendjemand aus grauer Vorzeit schickt mir eine Nachricht, aber ich weiß nicht, wer das ist und was diese Flaschenpost enthält. Dem habe ich versucht nachzugehen. Dabei habe ich den Ausdruck der „kritischen Phantasie“ verwendet. Verstehen ist ein großes Wort, aber was verstehe ich? Es ist ein Versuch, diese Flaschenpost in mich hinein zu lassen und kritisch auch mit meiner Fantasie umzugehen und die Geschichte in lesbare Worte zu bringen.

Welches andere Buch würden Sie empfehlen?

Gruber: "Auch eine Geschichte der Philosophie" von Jürgen Habermas.

Warum?

Gruber: Das Interessante in Habermas Spätwerk ist seine Annäherung an Transzendenz. Und das versucht er auch in der Philosophiegeschichte einzuholen. Das ist sehr faszinierend – vielleicht auch, weil Habermas etwas sucht, was er nicht einfach hat.

 

AUF EINEN BLICK

Gernot Gruber, war Professor an der Hochschule für Musik und Theater München und an der Universität Wien. Er ist seit 2005 Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2006 Obmann der Kommission für Musikforschung.

Sein aktuelles Buch „Kulturgeschichte der Europäischen Musik“ ist 2020 im Bärenreiter Verlag erschienen.