11.09.2024

Studie fordert umfassendere Datenerhebung zu Obdach- und Wohnungslosigkeit in Österreich

Leben ohne eigenes Dach über dem Kopf betrifft immer mehr Menschen. Wie viele Personen genau von Wohnungslosigkeit in Österreich betroffen sind, lässt sich aber schwer sagen. Eine aktuelle Studie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zeigt nun, warum es umfassendere Erhebungen braucht und wie eine verbesserte Datenbasis aussehen könnte.

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Wohnungslosigkeit wird oft auf das stereotype Bild des männlichen Obdachlosen in der Großstadt reduziert. Doch neben dieser sichtbarsten Form der „harten“ Obdachlosigkeit existieren verschiedene Formen von Wohnungslosigkeit und prekärem Wohnen, die in der Gesellschaft weitgehend „unsichtbar“ sind und nur schwer statistisch erfasst werden können. Dabei wird geschätzt, dass neben jenen 20.000 Menschen, die in Österreich statistisch als obdach- oder wohnungslos erfasst sind, eine erhebliche Dunkelziffer existiert. Gerade in diesem Graubereich ist der Anteil von Frauen, Kindern und Jugendlichen hoch. Zudem gibt es erhebliche Lücken in der Datenerhebung, die ein realistisches Bild der Lage erschweren.

Vor diesem Hintergrund hat sich eine aktuelle Studie am Institut für Stadt- und Regionalforschung (ÖAW) mit den Lücken in der Erhebung von Daten zu Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit und prekärem Wohnen in Österreich befasst. Aufbauend auf umfassenden Literaturrecherchen, Interviews mit Experten und Expertinnen sowie Workshops mit Stakeholder:innen, haben die Forscher:innen bestehende Datenquellen analysiert und Vorschläge für eine österreichweite Erhebung formuliert. Die Ergebnisse sind jetzt in Buchform und als Open Access Publikation erschienen.

Fragmentierte und uneinheitliche Datenlage

„Die Erhebungssituation in Österreich ist durch große Ungenauigkeiten gekennzeichnet, die ein verzerrtes Bild der Realität erzeugen“, sagen die Studienautoren Robert Musil und Philipp Schnell vom Institut für Stadt- und Regionalforschung der ÖAW. Verzerrungen entstehen einerseits, weil Daten auf verschiedenen föderalen Ebenen – auf Bundesebene, in den Bundesländern und in einzelnen Betreuungseinrichtungen und Vereinen – erhoben werden, und andererseits, weil sie nach unterschiedlichen Methoden gesammelt werden. Das Ergebnis ist eine regional höchst uneinheitliche Erhebungssituation mit großen Diskrepanzen in der Abdeckung.

Dies hat weitreichende Folgen: „Die tatsächliche Dimension von Wohnungslosigkeit und prekärem Wohnen, insbesondere in ländlichen Gebieten und unter spezifischen Bevölkerungsgruppen, wie Frauen und Jugendlichen, bleibt weitgehend unbekannt“, so die Studienautoren. Die Folge: Das Phänomen wird häufig nicht in seiner Vielfalt und im tatsächlichen Ausmaß erfasst, was es erschwert, adäquate Strategien zur Prävention oder zur Unterstützung von Betroffenen zu entwickeln.

Föderal organisierter Staat als Herausforderung

Gemeinsam mit seinem Team schlägt Musil drei mögliche Erhebungsstrategien vor, die sich an internationalen Erfolgsmodellen orientieren, aber auch die Umsetzbarkeit im österreichischen Kontext berücksichtigen.

Das erste Modell sieht eine dezentrale Erhebung auf Länderebene vor, bei der die Datenerhebung durch die Landesreferate für soziale Angelegenheiten erfolgt. Hier kann das umfassende Wissen der Länder am besten abgeholt werden, dies funktioniert aber nur, wenn auch alle Länder bereit sind, die Erhebung zu unterstützen. Dem gegenüber sieht das zweite Modell eine auf Bundesebene zentral organisierte Erhebung vor, die von einem Ministerium oder einer unabhängigen Forschungseinrichtung koordiniert und unmittelbar bei den Organisationen zur Betreuung und Unterbringung von betroffenen Personen durchgeführt wird. Das dritte vorgeschlagene Modell sieht eine teilweise dezentrale Erhebung vor, an der sich einzelne Bundesländer beteiligen und bei der ebenfalls die Landessozialreferate die Datenerhebung durchführen. Welches Modell die umfangreichste Abbildung von Zahlen zu Obdach- und Wohnungslosigkeit ermöglicht, hängt vom politischen Willen und den entsprechenden Entscheidungen auf Bundes- und Landesebene ab, so die Forscher:innen.

Nationale Strategie zur Bekämpfung von Armut gefragt

In jedem Fall plädieren die Studienautor:innen dafür, diese Erhebungsstrategien in eine umfassendere nationale Strategie zur Bekämpfung von Armut und Wohnraumgefährdung einzubetten. Besonders erfolgreich seien vergleichbare Erhebungen in Ländern wie Dänemark oder Finnland, die solche Ansätze bereits integriert haben.

Eine zentrale Herausforderung für Österreich als föderal organisierten Staat ist jedoch die Koordination zwischen den verschiedenen Verwaltungsebenen und den betreffenden Akteur:innen, von den Landesregierungen bis hin zu lokalen Betreuungseinrichtungen. Letztlich, so die Studie, ist eine möglichst weitreichende Kombination von Erhebungsformen und Datenquellen unerlässlich, um das Phänomen Wohnungslosigkeit in all seinen Facetten zu erfassen. Angesichts der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt sei somit dringendes Handeln gefragt, sagen die Studienautor:innen.

 

AUF EINEN BLICK

Publikation: 

Musil, Robert / Schnell, Philipp / Dlabaja Cornelia: Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit und prekäres Wohnen. Aktuelle Datenlage und Vorschläge für eine österreichweite Erhebung 2024, ISR-Forschungsberichte, 59

Rückfragehinweis:

Stefan Meisterle
Öffentlichkeit & Kommunikation
Österreichische Akademie der Wissenschaften
T +43 1 51581-1333
stefan.meisterle(at)oeaw.ac.at

Wissenschaftlicher Kontakt

Robert Musil
Institut für Stadt- und Regionalforschung
Österreichische Akademie der Wissenschaften
T +43 1 51581-3524
robert.musil(at)oeaw.ac.at

Philipp Schnell
Institut für Stadt- und Regionalforschung
Österreichische Akademie der Wissenschaften
T: +43 1 51581-3522
philipp.schnell(at)oeaw.ac.at