27.10.2023

Welttag des audiovisuellen Erbes

Von Kulturgut und Kulturerbe

Kultur (Ver)Erben

Der Vorgang des Vererbens bzw. Erbens setzt Güter und Personen in Beziehung. Bei Gütern denkt man primär an Materielles, zu (ver)erbende Güter können in Form von Urherberrechten, Lizenzen oder Patenten aber auch immateriell sein. Audio-visuelles Gut ist – zumindest, wenn es auf Trägermedien fixiert ist und nicht nur im Dateiformat existiert – quasi beides: als Objekt ist es materiell, seine Inhalte sind immateriell und können, müssen aber nicht, mit Urheberrechten oder verwandten Rechten verbunden sein. Audio-visuelles Gut ist zugleich eine Unterkategorie dessen, was allgemein unter den Oberbegriff Kulturgut subsumiert wird.

 

Aktive Aneignung

Aber wie wird Kulturgut zum Kulturerbe? Kulturgut reicht nur eine Beziehung, um Kulturgut zu sein: die der Person/en, die dieses Gut produziert hat/haben, zu genau diesem Gut als Kulturgut; Kulturerbe benötigt aber immer eine zweite Beziehung: die der Person/en, die sich mit diesem Gut zu einem späteren Zeitpunkt, nicht selten Generationen später, in Bezug setzt/setzen. Ohne diesen zweiten Bezug, der ein Vorgang der zeitlich versetzten Anerkennung bzw. Aneignung ist, kann Kulturgut nicht Kulturerbe werden. So beschreibt z.B. Rodney Harrison Kulturerbe als “active process of assembling a series of objects, places and practices [from the past] that we choose to hold up as a mirror to the present, associated with a particular set of values that we wish to take with us into the future” (Harrison 2013: 4).

 

Potentielles & anerkanntes Kulturerbe

So wie Erb:innen in Verlassenschaftsverfahren Güter als Erbe ausschlagen können, kann auch Kulturgut einer Person, Personen oder Gemeinschaften nicht zwangsweise als Kulturerbe zugewiesen werden. Ohne aktive Anerkennung befindet sich Kulturgut also in einem Stadium, das sich lediglich als potentielles Kulturerbe bezeichnen ließe.

 

Die audio-visuellen Bestände des Phonogrammarchivs sind Kulturgut, und zu großen Teilen sind sie bereits als Kulturerbe angenommen worden: Das trifft z.B. auf historische Aufnahmen von Minderheitensprachen zu, die von heutigen Sprecher:innengemeinschaften zur Revitalisierung ihrer Sprache genutzt werden; es trifft z.B. aber auch zu auf The Historical Collections (1899-1950), die seit 1999 zum Weltdokumentenerbe der UNESCO zählen. Hier ist der Akt der Aneignung durch die UNESCO quasi im Namen der gesamten Menscheit vollzogen worden.

 

Der Faktor der Skalarität

Die Anerkennung von Kulturgut als Kulturerbe kann also von unterschiedlich großen sozialen Entitäten ausgehen, die durchaus auch unterschiedliche, zum Teil antagonistische Agenden, verfolgen oder sich aufgrund konkurrierender Ansprüche in Erbstreitigkeiten verwickeln. Hier kann der Begriff der Kultur in Kulturerbe irreführend sein – und problematisch werden, sofern er, wie im allgemeinen Sprachgebrauch häufig, als Synonym für Nation oder Ethnie gedacht und mit essentialisierenden Zuschreibungen verbunden wird. Kulturgut kann auch von Gemeinschaften unterhalb der Ebene von Nationen oder Ethnien, von ihnen übergeordneten oder quer durch sie hindurch laufenden sozialen Einheiten, aber auch von Individuen als Kulturerbe beansprucht werden. Neuere Ansätze der Critical Heritage Studies befassen sich genau mit diesem Phänomen der Skalarität und, damit verbunden, mit Fragen von Politik, Macht und Konflikten in Prozessen von heritagization (s. z.B. Lähdesmäki, Thomas & Zhu 2019).

 

Kulturerbe: annehmen oder ausschlagen?

Die bisherige Erfahrung des Phonogrammarchivs ist, dass Gemeinschaften und Individuen audio-visuelles Kulturgut schnell – und oft sehr emotional – als ihr Kulturerbe anerkennen, wenn sie von der Existenz von Aufnahmen erfahren, zu denen sie einen familiären, geographischen, sprachlichen, musikalischen, religiösen oder anderweitigen Bezug herstellen können. Andere Archive berichten jedoch auch von Fällen, in denen einfach nur mit Desinteresse, zum Teil aber auch mit bewusster Ablehnung reagiert wurde, meist aus politischen, religiösen oder sozialen Gründen mit Bezug zu den Inhalten der Aufnahmen. Auch im Bereich von Kulturgütern kann eine Erbschaft eine Last sein, und es kann sinnvoll – oder sogar überlebenswichtig – sein, sie auszuschlagen.

 

Provenienz

Es sind aber nicht nur die Inhalte, die im Phonogrammarchiv und anderswo lagerndes audio-visuelles Kulturgut zu einem problematischen Erbe machen können, das man lieber nicht annimmt. Es sind auch die Umstände seiner Entstehung, z.B. in kolonialen Kontexten oder in Kriegsgefangenenlagern, die von extremen Machtgefällen, Extraktivismus und Zwang geprägt waren und Personen oder Gemeinschaften zu dem gemacht haben, was Nick Shepherd als „the disinherited“ bezeichnet (Shepherd 2023: 4, Hervorhebung im Original). Die positive Aura, mit der das Konzept Kulturerbe in der Regel daherkommt, verdeckt nach wie vor zu häufig die problematische Provenienz von Kulturgütern in den oft unter das – ebenfalls mit einer positiven Aura daherkommende – Label Heritage Institutions oder Memory Institutions gefassten Archiven und Museen des so genannten globalen Nordens.

 

Wissenschaftliches & institutionelles Erbe

Für diese Institutionen wiederum ist das von ihnen verwahrte Kulturgut bereits ein Erbe: nämlich ihr ureigenes wissenschaftliches und institutionelles Erbe. Dieses gilt es nicht nur durch Konservierung, Restaurierung und Langzeitsicherung zu bewahren und über Erschließung und Katalogisierung findbar und verfügbar zu machen. Es gilt auch, sich mit ihm, seiner Provenienz und damit der eigenen Geschichte als Institution kritisch auseinanderzusetzen, so belastend – und belastet – sie zum Teil auch sein mag: „Heritage is, as much as anything, a political act and we need to ask serious questions about the power relations that ‘heritage’ has all too often been invoked to sustain“(Smith 2012). Auch daran erinnert der Welttag audiovisuellen Erbes jedes Jahr  am 27. Oktober.

 

Kerstin Klenke

Mit Dank an Maria Kadiri, Conny Gruber, Gebhard Fartacek und Christian Liebl für den Austausch von Ideen.

 


Links

Harrison, Rodney 2013: Heritage: Critical Approaches. New York: Routledge.

Lähdesmäki, Tuuli, Suzie Thomas & Yujie Zhu (eds.) 2019: Politics of Scale. New Directions in Critical Heritage Studies. New York: Berghahn.

Shepherd, Nick 2023: Introduction: Rethinking Heritage in Precarious Times. In: Nick Shepherd (ed.): Rethinking Heritage in Precarious Times. Coloniality, Climate Change, and Covid-19. London & New York: Routledge, pp. 1-14.

Smith, Laurajane 2012: 2012 Manifesto. Association of Critical Heritage Studies.