06.05.2022

SOUNDS & SIGHTS OF SCIENCE #5

Shivaratri-Lied über die Erschaffung der Welt und des Menschen und dessen Sterblichkeit - vorgestellt von Christian Huber

Kanam (Bezirk Kinnaur) © Christian Huber

Was ist zu hören?

Shivaratri-Lied über die Erschaffung der Welt und des Menschen und dessen Sterblichkeit (Oras boli, Sprache der unteren Kasten im Unteren Kinnaur; Feldforschungsaufnahme von Christian Huber).

"Am Anfang war weder Hell noch Dunkel. In der Mitte des Meeres (erschien) Gott Mahadev (d.h. Shiva), und er bekam Angst (weil die Welt leer war). Es kamen zu ihm Tsondorma Khanɖo (d.h. Brahma, hier als Mond) und Vishnu Narayn (hier als Sonne). Mahadev sagte: 'Es gibt kein Land, keine Menschen, keine Güter!' Gott Mahadev rief Wind herbei. Wind kam, und Erde lagerte sich ab. Der Gott machte einen Menschen aus Gold, einen Menschen aus Silber, einen Menschen aus Bronze, einen Menschen aus Kupfer, einen Menschen aus Eisen (und allen möglichen weiteren Materialien – diese Menschen hörten jedoch alle nicht, wenn sie gerufen wurden, weil sie keine Ohren hatten). Da kam eine Katze vorbei und sagte 'Miau!' (und Mahadev sah, dass sie Ohren hatte). Also machte der Gott einen Menschen aus Hundekot und Asche (weil alle anderen Materialien bereits aufgebraucht waren), und der bekam Ohren und antwortete, als er gerufen wurde. (Da wurde Mahadev zornig, weil alle wertvollen Materialien für Menschen ohne Ohren verschwendet worden waren, und so sagte er zu ihm:) 'Du sollst sterben! Man soll das Muschelhorn blasen und dich hinter den Hügel bringen!' (d.h. wo die Totenriten stattfinden)."

AUFNAHME ABSPIELEN


Was ist daran besonders interessant?

Es ist dies ein Lied zum Shivaratri-Fest (Nacht des Shiva, Shivas Hauptfest). Wie alle anderen Shivaratri-Lieder im Kinnaur wird es in der Sprache der Zimmerleute und Schmiede gesungen. Der District Kinnaur im indischen Himalaja ist eine Gegend von großer sprachlicher Vielfalt. So hat die Kaste der Zimmerleute und Schmiede im Unteren Kinnaur eine eigene Sprache, die auch im Oberen Kinnaur (zumindest in gewissen Teilen) von Angehörigen dieser Kaste verstanden wird. Im Gegensatz zu anderen in Kinnaur gesprochenen Sprachen, die zum tibeto-birmanischen Zweig der sinotibetischen Familie gehören, gehört sie der indoeuropäischen Sprachfamilie an. Die Sprache hat keine Eigenbezeichnung und ist bislang kaum dokumentiert (die im Ethnologue angegebene Bezeichnung wurde von allen Gewährsleuten abgelehnt). Es scheint eine Reihe von Dialekten zu geben. Ob einige dieser Dialekte als eigene Sprachen gewertet werden sollten, muss künftige Forschung entscheiden.

Wie beschäftige ich mich damit?

Die Sprache gehört zu jenen Sprachen, mit denen ich mich im Rahmen meines Forschungsschwerpunkts Erforschung und Dokumentation bedrohter Sprachen in Kinnaur beschäftige. Im Zuge dieser Forschung ist eine große Zahl von Aufnahmen entstanden, die auch am PhA archiviert sind.



Christian Huber vertritt am Phonogrammarchiv die Sprachwissenschaft und forscht zu un(ter)dokumentierten Sprachen in Kinnaur. Er betreut zudem die Archivbestände aus Nordindien, Nepal und Tibet sowie deutsche Dialektaufnahmen aus Österreich und Norditalien.

Link:

Erforschung und Dokumentation bedrohter Sprachen in Kinnaur (Shumcho, Jangrami, Sunnami, Oras Boli)