03.11.2023

SOUNDS & SIGHTS OF SCIENCE #23

Trauerlied eines Weihraucharbeiters aus Südarabien, aufgenommen am 3. August 1904 – vorgestellt von Gebhard Fartacek

Was ist zu hören?

Zu hören ist die Stimme eines Weihraucharbeiters namens Muḥammed ben Selim al-Kṯīrī, der um 1874 in ʿAbget – in der omanischen Provinz Ẓfār (Dhofar) – geboren wurde. Im Gefolge der Südarabien-Expedition der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften (1898/99) kam Muḥammed nach Wien um hier u.a. die für seine Heimat typischen Geschichten und Lieder im „vulgärarabischen Dialekt von Ẓfār“ vorzutragen. Ihm gegenüber saß der berühmte griechisch-österreichische Semitist Nikolaus Rhodokanakis, der die Erzählungen mit Hilfe des Phonogrammarchivs aufnahm, transkribierte und übersetzte.


Das Trauerlied nimmt auf einen gewissen Abū Heyf Bezug, der sieben Jahre lang im Lande Ẓfār regierte. Dieser hatte einen Freund vom Stamm der Grāwī. Wie Rhodokanakis (1908: 78) zusammenfasst, sei [eines Tages] die Sippe des Grawī nach Erzīt gekommen und hätte dort Abū Heyf ermordet. Die Mörder flohen in die Wüste, doch wurden sie vom Freund des Abū Heyf verfolgt. Dieser holte einen von den Grawī ein und schlug ihn am Fuße, sodass der Grawī verstarb. Der Freund des Abū Heyf sprach: Rache für meinen Freund! Dann kehrte er zur Leiche des Abū Heyf zurück. Man begrub ihn. Da sang jemand dieses Lied:
 

WAS IST DARAN BESONDERS INTERESSANT?

Rhodokanakis beschreibt Muḥammed ben Selim al-Kṯīrī als einen vollendeten Schauspieler, als guten, ja trefflichen Erzähler – aber nur dann, wenn ihm der Inhalt eines Märchens, einer Anekdote lag. Ein schlechter Erklärer sei er immer gewesen; dabei ungeduldig. Und mit der Wahrheit nahm er’s nicht immer so genau – so Rhodokanakis (1908: V), der über seinen Gewährsmann wörtlich festhält: „Anstößiges vorzutragen, nahm er keinen Anstoß; ging es aber an die Erläuterung, dann leistete er geradezu Wunderbares im Verdrehen und Entstellen des Sinnes.“

Eine solche Charakterisierung des Interviewpartners lässt auf den methodologischen Rahmen und auf den Forschungskontext blicken, der diesen ältesten Tonaufnahmen vielfach zugrunde liegt. Daraus ergeben sich viele offene Fragen nicht zuletzt auch hinsichtlich des Umgangs mit derartigen Quellen im Hier und Jetzt.

Von einer rezenten sozialanthropologischen Theorienbildung zum südarabischen Gewohnheitsrecht ausgehend – wie sie etwa in den bahnbrechenden Arbeiten von Walter Dostal dargelegt wurde – erscheinen jedoch viele Elemente, die in diesen Aufnahmen angesprochen werden, keineswegs als verdreht und sinnentstellt. In ihrer Plot-Bildung könnte auch die Erzählung über die Ermordung des Abū Heyf samt ihren Folgen als Lehrstück lokalkultureller Konfliktaustragung in südarabischen Stammesgesellschaften gelesen werden.

 

WIE BESCHÄFTIGE ICH MICH DAMIT?

Neben meinem persönlichen Interesse für arabische Dialekte und lokalkulturelle Mechanismen der Konfliktaustragung sind es vor allem wissenschaftsgeschichtliche Aspekte, die mich an derartigen Aufnahmen faszinieren. Die Südarabien-Expedition der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften war bei all ihren Pannen und Streitereien innerhalb des Forschungsteams ein Meilenstein in der Forschungsgeschichte der Nahostethnologie im Allgemeinen und des Forschungsstandorts Wien im Speziellen.



Gebhard Fartacek  ist Kultur- und Sozialanthropologe und als Kurator für die Nahostbestände des Phonogrammarchivs verantwortlich. Er forscht zu ethnisch-religiösen Grenzen, personalen und kollektiven Identitätskonstruktionen, lokalkulturellen Konfliktbewältigungsstrategien sowie zu Methoden der ethnographischen Datenerhebung im Großraum Syrien.
 

 

Quellen und weiterführende Literatur

Dostal, Walter & Wolfgang Kraus ed. (2005):  Shattering Tradition: Custom, Law and the Individual in the Muslim Mediterranean. London: I.B. Tauris.

Naumkin, Vitaly et al. (2015): Soqotri Texts in the Phonogrammarchiv of the Austrian Academy of Sciences. An Annotated Edition. In: Journal of Semitic Studies, Supplement 36. Oxford: Oxford University Press.

Rhodokanakis, Nikolaus (1908): Südarabische Expedition Band VIII: Der vulgärarabische Dialekt im Ḏofār (Ẓfār). Wien: Hölder.

Sturm, Gertraud (2015): David Heinrich Müller und die südarabische Expedition der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 1898/99. Wien: ÖAW-Verlag.

Online-Katalog des Phonogrammarchivs der ÖAW: Metadaten zur Tonaufnahme Ph 124