25.09.2024 | Nationalratswahlen

Welche Rolle Corona im Wahlkampf spielt

Es ist die erste Nationalratswahl nach der Pandemie. Wie sich diese auf die Wahlen auswirken könnte und wie die FPÖ die Frustration über die Coronamaßnahmen für sich zu nutzen weiß, darüber spricht ÖAW-Soziologe Alexander Bogner im Interview.

Am 29. September wird in Österreich gewählt. Für den Wahlausgang könnte die vergangene Pandemie durchaus eine Rolle spielen. © Adobe Stock

Steht Österreichs ein Rechtsruck bevor? Aus der Nationalratswahl am 29. September könnte erstmals die FPÖ als Wahlsiegerin hervorgehen – nur fünf Jahre nach der Ibiza-Affäre. Wie die Corona-Pandemie das politische Klima in Österreich verändert hat und wie es die FPÖ schaffte, sich in dieser Zeit als letzte Bastion der Freiheit zu inszenieren, beleuchtet der Alexander Bogner, Soziologe und Senior Scientist am Institut für Technikfolgenabschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

ANGEBLICHE „CORONA-DIKTATUR“

Nur fünf Jahre nach dem Ibiza-Skandal scheint es für viele eine ausgemachte Sache zu sein, dass die FPÖ bei den kommenden Nationalratswahlen erstmals stärkste Kraft wird. Inwieweit hat die Erfahrung der Pandemie der FPÖ zu einem politischen Comeback verholfen?

Alexander Bogner: Die FPÖ hat sich im Streit um das Impfen und die Impfpflicht erfolgreich als letzte Bastion der Freiheit inszeniert. Dabei hat es ihr die Regierung allerdings auch ziemlich leicht gemacht. Denn die Entscheidung für die Impfpflicht wurde von der Regierungsspitze als „alternativlos“ dargestellt. Die FPÖ konnte sich deshalb problemlos als einzige politische Alternative präsentieren – und zwar ohne überhaupt irgendeinen sinnvollen Vorschlag zur Bekämpfung der Pandemie machen zu müssen. Die Pandemie bot der FPÖ also die einmalige Möglichkeit, das nach Ibiza stark ramponierte Rebell:innen-Image zu reparieren.

Die Pandemie bot der FPÖ die Möglichkeit, das nach Ibiza ramponierte Rebellen-Image zu reparieren.

Wie konnte die FPÖ die Frustration über die Corona-Maßnahmen für sich nutzen?

Bogner: Im Verlauf der Pandemie hat sich eine Kritik radikalisiert, die sich zunächst am Verdacht mangelnder Ausgewogenheit entzündet hatte. In den Medien würden wichtige Gegenstimmen gar nicht zu Wort kommen, die willfährige Wissenschaft sei von der Politik gesteuert, die Politik wiederum von der Pharma-Lobby. So lauteten die Vorwürfe. Jedenfalls: Diese Verdachtsmomente im Zusammenspiel mit einem libertären Freiheitsverständnis haben schließlich den Generalvorwurf einer „Corona-Diktatur“ unterstützt. Die FPÖ hat letztlich jene Leute abgeholt, die auf der rastlosen Suche nach „echten“ Alternativen waren und sich dabei Schritt für Schritt nach rechts bewegt haben. Das wurde mir zum ersten Mal deutlich, als ich im Rahmen der von der Bundesregierung initiierten „Corona-Studie“ radikale Impfgegner:innen zu Gesprächen in die Österreichische Akademie der Wissenschaften eingeladen habe.

KAUM AUFARBEITUNG DER PANDEMIE

Sie haben 2023 eine Studie zur Aufarbeitung der österreichischen Corona-Politik veröffentlicht, in der Sie auch auf die Notwendigkeit einer intensiven gesellschaftlichen Debatte über die Auswirkungen der Pandemiepolitik hinweisen. Welche gesellschaftliche Aufarbeitung der Pandemie hat bisher stattgefunden?

Bogner: Die gesellschaftliche Aufarbeitung hat sich leider in sehr engen Grenzen gehalten. Es gab einige öffentliche Diskussionsveranstaltungen, ich habe eine Reihe von Einladungen erhalten, und bei den Wiener Festwochen gab es den Versuch einer theatralischen Aufarbeitung der Corona-Politik, so nach dem Modell eines Gerichtsverfahrens. Aber das ist natürlich keine koordinierte gesellschaftliche Aufarbeitung. Die Regierung hat auf Basis der ÖAW-Corona-Studie unterschiedliche Maßnahmen beschlossen, zum Beispiel die Stärkung der Krisenkommunikation, die Attraktivierung von Gesundheitsberufen oder die bessere Nutzung von Gesundheitsdaten und deren Zugang für die Forschung. Aber auch diese politische Reaktion bleibt hinter dem zurück, was man sich als Aufarbeitung wünschen würde.

Die gesellschaftliche Aufarbeitung der Pandemie hat sich leider in sehr engen Grenzen gehalten.

POLARISIERUNG VERMEIDEN

Die Corona-Pandemie hat in Österreich zu einer Polarisierung der Gesellschaft geführt. Was sind die wichtigsten Lehren für den Umgang mit zukünftigen Krisen?

Bogner: Für mich gibt es drei zentrale Lehren. Erstens: Wir müssen Krisen als gesamtgesellschaftliche Problemstellungen verstehen. In der Pandemie jedoch dominierte lange Zeit eine virologisch-epidemiologische Problemwahrnehmung. Dies hat es zum Beispiel der Bildungspolitik sehr schwer gemacht. Zweitens: Wir müssen Polarisierung vermeiden. Ein zentraler Motor der Polarisierung in der Pandemie war die Durchsetzung eines scharfen moralischen Tonfalls. Die „Ungeimpften“ erschienen schon fast als minderwertiger Menschenschlag. Deshalb sollte die Wissenschaft immer vor Moralisierung warnen. Drittens: Klare Grenzen zwischen Medien, Wissenschaft und Politik sind unbedingt erforderlich. Die Wissenschaft sollte nicht versuchen, in die Rolle der Politik zu schlüpfen; sie sollte sich auch nicht instrumentalisieren lassen. Dasselbe gilt für die Medien. Distanz ist wichtig.

Klare Grenzen zwischen Medien, Wissenschaft und Politik sind unbedingt erforderlich.

Welche nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen hat die Pandemie in Österreich hinterlassen?
Bogner: Das wäre eine schöne Frage für eine sozialwissenschaftliche Untersuchung. Diese fehlt leider noch, obwohl wir für eine solche Analyse sogar interessante Daten hätten. Im Rahmen der Corona-Aufarbeitung gab es ein großes Bürger:innenbeteiligungsverfahren. Rund 320 Personen aus allen Bundesländern haben sich im Herbst 2023 für einen Tag zu Kleingruppendiskussionen in ihrer Landeshauptstadt getroffen. In diesen Gesprächen wurden immer wieder Vertrauensverluste thematisiert – aufgrund mangelnder Toleranz gegenüber Andersdenkenden im Alltag oder auch aufgrund der engen Verflechtungen zwischen Medien, Politik und Wissenschaft. Aber auch diesen Berg an Daten, den diese interessanten Gespräche hervorgebracht haben, müsste man erst einmal systematisch aufarbeiten.

Alexander Bogner. © Daniel Hinterramskogler

 

AUF EINEN BLICK

Alexander Bogner ist habilitierter Soziologe mit Schwerpunkt in den Bereichen Wissenschaft, Technik und Umwelt am Institut für Technikfolgen-Abschätzung der ÖAW. Er ist leitender Autor der Studie „Nach Corona. Reflexionen für zukünftige Krisen“, die von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Auftrag der Bundesregierung und in Zusammenarbeit mit Universität Wien, Zentrum für Soziale Innovation, Institut für Höhere Studien, Medienhaus Wien, Statistik Austria durchgeführt wurde. Die Studie ist Ende 2023 erschienen und im Verlag der ÖAW Open Access nachzulesen.