Sind Volksabstimmungen über die Zugehörigkeit eines Territoriums ein geeignetes Instrument zur Schaffung eines demokratisch legitimierten Friedens? Diesen Überlegungen gehen die Historiker Oliver Jens Schmitt, Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), und Reinhard Stauber, Universität Klagenfurt, in dem von ihnen herausgegebenen Buch „Frieden durch Volksabstimmung? Selbstbestimmungsrecht und Gebietsreferenden nach dem Ersten Weltkrieg“, erschienen im ÖAW-Verlag, nach.
KÄRNTNER VOLKSABSTIMMUNG IM EUROPA-KONTEXT
Wie ist es zu dem Buch gekommen?
Oliver Jens Schmitt: Ausgangspunkt war das 100-jährige Jubiläum der Kärntner Volksabstimmung von 1920, uns ging es darum, es in einen europäischen Kontext einbetten. Das war ein neuer Ansatz, denn bislang wurden die unterschiedlichen Volksabstimmungen kaum verglichen. Nach dem Ersten Weltkrieg waren sie ein wichtiges Instrument für die Neuordnung Europas, die auf von den Siegermächten propagierten „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ beruhen sollte. Die Verliererstaaten Deutschland, Österreich und Ungarn verlangten in allen umstrittenen Gebieten Volksabstimmungen. Das wurde ihnen verweigert. In Elsass-Lothringen wurde nicht abgestimmt, weil Frankreich behauptete, es sei ohnehin klar, dass die Bevölkerung für Frankreich sei.
Nach dem Ersten Weltkrieg waren Volksabstimmungen ein wichtiges Instrument für die Neuordnung Europas.
Warum war man sich da so sicher?
Schmitt: Genau das ist unser Ansatz. Wir haben Gebiete verglichen, in denen in der Regel deutschsprachige mit slawischsprachigen Bewohner:innen zusammengelebt haben: Deutsch-Österreicher und Slowenen in Kärnten, Deutsche und Polen in Oberschlesien und Ostpreußen. Dabei war überraschend, dass die Bevölkerungsmehrheit nicht entlang der sprachlichen Zugehörigkeit abgestimmt hat. Nationalisten dachten, wer Slowenisch oder Polnisch spricht, möchte auch zu diesem Staat gehören. Aber genau das ist nicht passiert. Die Menschen haben gegen diese Form des Sprachnationalismus gestimmt.
MENSCHEN WOLLTEN KEINE EXPERIMENTE
Welche Kriterien hatten sie stattdessen?
Schmitt: Die meisten Polen in Ostpreußen waren Protestanten, sie wollten nicht zu einem katholischen Land. Sie haben das deutsche System als ihres betrachtet und als überlegen empfunden. Das kann man auch in Kärnten beobachten, wo die Sozialgesetzgebung der jungen Republik Österreich nach dem Ende der Monarchie fortschrittlicher war als im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Die Menschen haben Lohnsysteme, soziale Absicherung, Pensionsanspruch, ökonomische Faktoren und demokratische Rechte verglichen. Und, ganz wichtig: Wo leistet man den Militärdienst? Wird man als Slowene in den Süden Jugoslawiens geschickt, wo es bewaffnete Auseinandersetzungen gibt? Politiker, Lehrer, Intellektuelle und Journalisten schürten zwar den Sprachnationalismus, aber viele Menschen haben nach anderen Kriterien entschieden.
Überraschenderweise hat die Bevölkerungsmehrheit nicht entlang der sprachlichen Zugehörigkeit abgestimmt.
Würde Europa anders aussehen, wenn man überall Abstimmungen gemacht hätte?
Schmitt: Wir konnten feststellen, dass die Behauptung, eine Gesellschaft definiere ihre Loyalitäten vor allem über die Sprache, in dieser Absolutheit nicht stimmt. Die Menschen haben politische, soziale und wirtschaftliche Systeme verglichen – und wollten oft keine Veränderung, dass sie das ihnen bekannte und von ihnen akzeptierte System gegenüber einem Experiment mit unbekanntem Ausgang bevorzugten. Das erklärt auch, warum viele Abstimmungen nicht stattgefunden haben – denn die Siegermächte haben diese Mechanismen auch erkannt und fürchteten, dass viele Referenden zugunsten der Verliererstaaten ausgehen würden. Das hätte den Kriegsverlauf im Nachhinein auf den Kopf gestellt, und dazu noch mit den Mitteln der Siegerstaaten. Hätte man tatsächlich das Selbstbestimmungsrecht der Völker ernst genommen, und in allen umstrittenen Gebieten Volksabstimmungen durchgeführt, dann sähe die politische Landkarte Europas nach 1918 definitiv anders aus. Vielleicht hätte man viele Konflikte vermeiden können, weil die Gebiete nicht gegen den Willen der Bevölkerung anderen Nationen zugeordnet worden wären.
Die Menschen haben Lohnsysteme, soziale Absicherung, Pensionsanspruch, ökonomische Faktoren und demokratische Rechte verglichen.
VOLKSABSTIMMUNGEN KÖNNEN POLARISIERUNG ANHEIZEN
Gab es auch Probleme bei Volksabstimmungen?
Schmitt: Der Nachteil ist, dass die Menschen zu einem Bekenntnis gezwungen wurden. Der Druck war dadurch enorm hoch. Im österreichischen Kontext wurden der slowenischen Bevölkerung überdies kulturelle Rechte versprochen, die später nicht gewährt wurden. Sie verhielten sich loyal zu Österreich, aber diese Haltung wurde nicht entsprechend honoriert. Ein Referendum kann zudem selbst in einer gefestigten demokratischen Gesellschaft als Spaltpilz fungieren. Und zwar deswegen, weil es nur eine Variante A oder Variante B gibt.
Hätte man tatsächlich das Selbstbestimmungsrecht der Völker ernst genommen, und in allen umstrittenen Gebieten Volksabstimmungen durchgeführt, dann sähe die politische Landkarte Europas nach 1918 definitiv anders aus.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Schmitt: Ich bin Nordwestschweizer, der sogenannte Jura-Konflikt, also die politische Unabhängigkeit der Region Jura vom Kanton Bern, beschäftigt die Schweiz seit vielen Jahrzehnten. In Kaskaden von Gebietsreferenden wurde versucht, diesen Streit zu lösen, am Schluss wurde sogar auf Gemeindeebene abgestimmt. Nach der definitiven Entscheidung 2021 in der besonders umstrittenen Gemeinde Moutier ist die Stimmung so schlecht, dass Leute der unterlegenen Gruppe wegziehen. Das hat zu einer Spaltung in der regionalen Gesellschaft geführt. Das Schweizer Beispiel zeigt, eine Befriedung ist nicht leicht zu erreichen, wenn die Gebiete sehr umstritten sind. Selbst in einer demokratischen Gesellschaft wie der Schweiz braucht es Jahrzehnte, bis die Wunden aus den Abstimmungskämpfen heilen. Dies belegen die Abstimmungen in anderen Teilen des Jura.