Wiener Studien- Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen


Reinhold Merkelbach, Hestia und Erigone. Vorträge und Aufsätze. Hrsg. v. Wolfgang Blümel, Bärbel Kramer, Johannes Kramer, Cornelia Eva Römer. Stuttgart  -  Leipzig: Teubner 1996. IX, 501 S., 16 Tafeln, 1 Tafelbeilage. ISBN 3-519-07438-9 Reinhold Merkelbach, Philologica. Ausgewählte Kleine Schriften. Hrsg. v. Wolfgang Blümel, Helmut Engelmann, Bärbel Kramer, Johannes Kramer, Cornelia Eva Römer. Stuttgart  -  Leipzig: Teubner 1997. XII, 632 S. ISBN 3-519-07439-7

Beide Sammelbände dokumentieren in eindrucksvoller Weise die reiche Forschungstätigkeit und das breite wissenschaftliche Interesse eines der bekanntesten lebenden Altertumswissenschaftler: Reinhold Merkelbach ist nicht nur dem Klassischen Philologen, sondern auch dem Althistoriker und dem Papyrologen ein Begriff; und alle wissen, daß er auch gerne, in einer unverkennbaren (gelegentlich sehr humorvollen) Weise, über den Rahmen der Antike hinausgegriffen hat.

Unkonventionell, wie der Forscher M. sich oft in seinen Arbeiten bewiesen hat, ist auch der erstgenannte Sammelband. Die darin enthaltenen 26 Artikel - Spiegel seiner religionsgeschichtlichen Interessen - sind nicht nur, wie üblich, eine Zusammenschau verstreut publizierter Aufsätze (und Vorträge), sondern zum Teil auch geraffte Auszüge aus Kapiteln seiner Bücher. M. hat die Artikel, wie das Vorwort seiner Schüler verrät, selbst ausgewählt, manches überarbeitet und dem Buch auch seinen Titel gegeben. Man wird deshalb in ,Hestia und Erigone' eine Chiffre sehen müssen, mit welcher M. seine grundsätzliche religionswissenschaftliche Position und Sichtweise dem Leser - der durch diesen Hinweis einigermaßen neugierig geworden ist - sichtbar machen will. Und den Schlüssel verbirgt M. nicht: An Hestia (,Der Kult der Hestia im Prytaneion der griechischen Städte', 1980) zeigt M. die Entwicklung religiöser Auffassungen der Griechen, vergleicht Analoges bei Skythen (denen M. auch in zwei weiteren Arbeiten Aufmerksamkeit widmet) und Persern, und versucht, nach Besprechung der ephesischen Inschriften zum Hestia-Kult, die Verbindung zu Heraklit herzustellen; mit der Zeichnung des aitiologischen Ikarios-Erigone-Mythos (,Tragödie, Komödie und dionysische Kulte nach der Erigone des Eratosthenes', 1963) zeigt M. einerseits seine Verbundenheit zu den Arbeiten Karl Meulis - die auch in ,Gefesselte Götter' (1971), allein schon durch den Titel, deutlich ist -, zieht dann jedoch eine starke Linie zu Ägyptischem, zu hellenistischen Mysteriengedanken, eine Linie, die er seither in immer stärkerem Maß bis heute verfolgt. Man könnte also sagen, der Titel ,Hestia und Erigone' steht für das Spannungsfeld Griechen - Barbaren, für altes Griechentum und dessen Amalgamierung mit fremdländischen Mythen und Religionsvorstellungen im Hellenismus. Dazu fügen sich die Beobachtungen zum Manichäismus und zur Umdeutung griechischer Termini durch die Christen. - Die beigegebenen Bilder sind, wie immer in den Büchern M.s, von ausgezeichneter Qualität.

Der zweite Sammelband von 132 Arbeiten zeigt den vielseitigen Philologen Merkelbach und die Entwicklung seiner Interessensschwerpunkte im Verlauf von fünfzig Jahren. Wie produktiv M. in diesem Zeitraum gearbeitet hat, wie groß die Zahl an Editionen, Büchern und kleineren Arbeiten ist, erweist das umfangreiche Schriftenverzeichnis zu Ende des Bandes. Aus ihm ist M.s Vorliebe für das Griechische unverkennbar, und dies bestätigt sich auch in der vorliegenden Auswahl. Die Aufsätze einzeln zu besprechen ist hier nicht der Raum - sie reichen von Beiträgen ,Zur griechischen Literatur' über ,Griechischer Roman und seine Vorstufen', ,Kleinasien und Ägypten', ,Inschriften und Papyrusurkunden', griechische ,Wörter und Wortbildung', ,Neues Testament, christliche Autoren', ,Mani', Biographisches (J. J. Bachofen, J. Kroll, H. Dörrie), ,Epigramme', ,Agonistica', ,Konjekturen', bis zu ,Latina': wohl kaum jemand wird behaupten können, dies alles schon einmal gelesen zu haben - und so sollen nur ein paar ganz allgemeine (und gewiß auch subjektive) Beobachtungen versuchen, die Grundzüge des Ganzen zu skizzieren: Im literarischen Bereich steht für M. die Auseinandersetzung mit dem Text im Vordergrund, die Arbeit an Fragmenten, und diese Neigung mag ihn wohl auch zu seiner frühzeitigen (und immer intensiver werdenden) Beschäftigung mit Papyri geleitet haben, beginnend mit literarischen, später auch mit dokumentarischen Zeugnissen. Von hier aus war die Richtung zu der Behandlung von Inschriften gewissermaßen vorgegeben. Der Facettenreichtum an Themen in diesem Sammelband läßt M.s lebhaftes Streben sichtbar werden, die Vielfalt des antiken Lebens zu begreifen und zu vermitteln.

Christine Harrauer

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