Wiener Studien- Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen


Judith Mossmann, Wild Justice. A Study of Euripides` Hecuba. Oxford: Clarendon Press 1995. 283 S. (Oxford Classical Monographs.) ISBN 0-19-814789-9

Die Dissertation, welche die Grundlage dieses Buches darstellt, wurde im Jahre 1992 als beste Diss. aus altgriechischer Literatur und Philosophie im UK prämiert; das Werk stellt in der Tat ein abgerundetes Ganzes dar und gibt eine ausgezeichnete Grundlage für eine Beschäftigung mit diesem schwierigen und interessanten Drama. Die Hekabe finde zwar -- so M. in ihrer Einleitung -- in letzter Zeit wieder mehr Beachtung seitens der Forschung, doch fehle bisher eine ausführliche Abhandlung über die literarischen Probleme des Stückes.

Im Abschnitt über die Stoffgeschichte ("The Raw Material") behandelt M. die Grundlagen des Dramas, dessen zweifelsohne originelle Konzeption eine Fülle von (vornehmlich literarischen) Vorbildern voraussetzt: am Anfang stehe Homer, den Euripides in einer sehr freien und vielfältigen Form rezipiere, am Ende die Polyxene des Sophokles, die M. vor der Hekabe ansetzt (man könnte, meint sie, die dunkleren Züge unseres Dramas im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung des Euripides mit dem älteren Zeitgenossen verstehen). Im Kapitel "Structure and Stagecraft" werden die Szenerie, die Figurenführung sowie Haltung und Gesten (Hikesieszenen!) besprochen; der Neuauftritt Hekabes in Vers 665 scheint zwar die von vielen konstatierte Zweiteilung des Dramas zu unterstreichen; doch argumentiert M. plausibel, daß u. a. durch die Voraussagen des Polydoros, die Präsenz seiner Leiche während des gesamten zweiten Teiles sowie durch das neuerliche schreckliche Leid, das die Königin trifft, genügend einheitstiftende Faktoren gegeben seien. Der Relevanz des Chores und seiner Lieder für die Handlung gilt das nächste Kapitel. Im Abschnitt "Rhetoric and Characterization" unternimmt M. mit viel Elan den Versuch, der Charakteristik der Figuren des Dramas im Vergleich zur Handlung einen gewissen Vorrang zu verleihen (dies in pointierter Antithese zur Poetik des Aristoteles). Sie weist u. a. richtig darauf hin, daß für eine Identifikation des Zusehers mit den dramatis personae zumindest ein Ansatz hin zur Individualität vonnöten sei, mag diese auch in der griechischen Tragödie starken Einschränkungen unterliegen. In der an Euripides immer wieder beanstandeten Rhetorisierung sieht sie weniger eine Gefahr als einen wertvollen Beitrag zum Verständlichmachen der Figuren und ihrer Handlungsmotive. Anhand der Gestalt Hekabes wird die Probe aufs Exempel gemacht, und es gelingt M., einige speziell für Hekabe zutreffende Charakterzüge aufzuzeigen, die sie unabhängig von den Wechselfällen der Handlung beibehält, insbesondere ihren überlegenen Verstand, der jede Gelegenheit klug aufgreift und sich der speziellen Situation stets bewußt ist (107), aber auch ihre unerbittliche Härte und Überlegenheit, sogar Agamemnon gegenüber (131). Die aristotelische These von der Priorität der Handlung erscheint dadurch aber nicht erschüttert. Der Tod Polyxenes wird (142ff.) richtig als besondere Variation des ,Jungfrauenopfers' verstanden, das im besonderen Maße imstande sei, Pathos zu erregen; auch auf die Metaphorik der Passage wird besonderer Wert gelegt, die u. a. gewisse erotische Konnotationen aufzuweisen scheint (πῶλος, μόσχος); die Tiermetaphorik könnte man -- so M. -- als eine Art Vorklang auf das Verhalten Polymestors und die prophezeite Metamorphose der Königin in eine Hündin verstehen. Das Lebensopfer Polyxenes sei gerade wegen der Hoffnungsloskeit ihrer Situation plausibler als das Opfer einer Iphigenie oder Makaria; die Tat jener Heroinen erhält aber durch die Freiwilligkeit ihren besonderen Stellenwert (vgl. Stockert, Komm. Iph. Aul. 1,32ff.).

Mit der Beurteilung von Hekabes Rache (164ff.) steht und fällt das Drama: Sie wurde vielfach als Ausdruck der Entmenschlichung der rasenden Königin gedeutet (vgl. 164 Anm. 2). In Wirklichkeit aber, so legt M. im wesentlichen überzeugend dar, war für einen griechischen Zuseher ihre Rache kein Verbrechen, sondern unter diesen Umständen sogar unbedingte Verpflichtung. Nach einem knappen Blick auf die Bedeutung der τιμωρία in der Literatur seit Homer kommt sie zu dem Schluß, der Zuseher habe sich wahrscheinlich mit dieser Rache identifiziert, ja diese sogar herbeigesehnt. In geschickter Weise wird die Reaktion der Bühnenfiguren (besonders des Agamemnon) und des Chores als Indiz für die Autorintention bewertet (dazu vgl. A. Zierl, Affekte in der Tragödie, Berlin 1994). In einem längeren Anhang (210ff.) wird das Weiterleben der Hekabe in Spätantike und Renaissance (Erasmus, Stiblinus) teilweise ausführlich untersucht; drei Appendices (zu Echtheitsfragen; Polyxene und Polydoros in der späteren Antike; bildliche Darstellungen des Mythos), ein ausführliches Literaturverzeichnis und zwei Indices beschließen dieses beachtenswerte Buch.

Walter Stockert
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