Wiener Studien- Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen


Idee und Transformation. Herausgegeben von Hellmut Flashar. Stuttgart - Leipzig: Teubner 1997. XII, 389 S. (Colloquium Rauricum. 5.) ISBN 3-519-07415-X

Ein profunder, die griechische Tragödie in ihrer Eigenart und in ihrer Weiterentwicklung, in ihrer Transformation in Literaturgattungen ab der Renaissance neuartig und mit Einbeziehung aller Voraussetzungen dokumentierender Band. Die einzelnen Kapitel können als Einführung und Überblick gelesen werden, bieten aber stets auch Problemstellungen und mögliche Lösungen an. Es beginnt mit Grundlegungen zum Verständnis des Tragischen und zur Behandlung der Tragödie in der Poetik des Aristoteles: A. Schmitt über "Wesenszüge der griechischen Tragödie. Schicksal, Schuld, Tragik", zum Problem der Abgrenzung von göttlicher und persönlicher Verantwortung im Beurteilungshorizont der Rezipienten und zur Frage der Schuld im Sinne der Tragödie. (Die Ansicht, daß im Ödipus des Sophokles menschliches Handeln auf der Grundlage von Mutmaßungen gemäß verfügbarer, vorgegebener oder erfragter Informationen thematisiert ist, sollte man nicht zu rasch beiseite schieben - 25f. Anm. 78 -, denn Ödipus kombiniert und schließt als untersuchender König jeweils so, wie seine Informationen beschaffen sind, und das Ganze hängt von Anfang an an einem falsch angegebenen Plural! Und der ,König Ödipus' ist doch auch die Darstellung der psychischen Situationen, die sich aus einem einmal gefaßten Mißtrauen ergeben, das man nicht mehr wegdenken kann und dessen emotionale Folgen sich unmittelbar auf Vorgehensweisen auswirken.) H. Flashar faßt besonnen abwägend die Aussagemächtigkeit der Poetik des Aristoteles zusammen. Die erste ,Transformation' stellt E. Lefèvre mit der Medea des Seneca vor und bietet einen genauen Vergleich mit Euripides. Ein Beispiel für die Auffächerung der griechischen Tragödie in die abendländische Literatur gibt A. Kablitz mit Tassos ,Re Torrismondo' (1586), einer klugen und produktiven, wenn auch offenbar manchmal etwas überschießenden Verwandlung des Ödipusstoffes. Es geht weiter mit einem Überblick über die Transformation des Medeastoffes in der Opernliteratur von J. M. Fischer. Besonders instruktiv - inhaltlich wie methodisch - ist der Beitrag von U. Suerbaum über "Shakespeare und die griechische Tragödie", der mit der Feststellung beginnt: "Shakespeare hat die griechische Tragödie nicht gekannt; sie hat auch indirekt kaum auf seine Werke eingewirkt. Der Einfluß Senecas, ist bei ihm so gering und so unspezifisch, daß man ihn schwer nachweisen und noch schwerer als wesentlich ansehen kann" (122). Und dann folgt, ausgehend von Ben Jonsons Gedichtzeile "And though thou hadst small Latine and lesse Greeke", eine fesselnde Darstellung Shakespearescher Dramatik, die Strukturen der dramatischen Dichtung an sich freilegt, weitergeführt durch eine Darstellung der Shakespeare-Rezeption im deutschen Sprachraum im Lichte früher Übersetzungen. R. Zeller skizziert Bearbeitungen der von Aristoteles in der Poetik (cap. 14) erwähnten Merope-Geschichte, die für die Dramatiker des 16. bis 18. Jh. wichtiger war als der Ödipus-Stoff, am Beispiel der Bearbeitungen durch Maffei, Voltaire und Lessing (der den Kresphontes des Euripides rekonstruierte und aus der Diskussion des Stoffes allgemeine Interpretationen der Poetik herausentwickelte); der folgende, umfassende und umfassend belegte Beitrag von W. Barner vertieft und erweitert die Kenntnis von Lessings Stellung zur griechischen Tragödie und zu Aristoteles. Th. Gelzer, "Goethes Helena und das Vorbild des Euripides", führt die Tragödie des Euripides und die Genese des zweiten Teiles des Faust vor und verweist mit der Behandlung von Goethes Aristotelesverständnis auf die ersten beiden Beiträge des Bandes. J. Latacz trägt zusammen, was F. Schiller und seine Beschäftigung mit der Tragödie betrifft und untersucht, im Hinblick auf die Griechisch-Kenntnisse der Zeit, die eigentlichen (lateinischen und französischen) Übersetzungen und Paraphrasierungen, aus denen man das Material schöpfte. Es wird so auch ersichtlich, warum Schillers Versuch, die ,Braut von Messina', ein ,Stück mit Chören', gegenüber etwa der Faustdichtung Goethes abfallen mußte. G. Neumann, "Das goldene Vließ. Die Erneuerung der Tragödie durch Grillparzer", zeigt gerade vor diesem Hintergrund, wie genau und tief Grillparzer die griechische Tragödie verstand und umsetzte. (Zu Grillparzers Ausdruck ,Griechheit' und zum Thema insgesamt ist nachzutragen H. Schwabl, Antike Gestaltungen der Argonautensage und Grillparzers ,Goldenes Vließ'. WHB 36, 1994, 5-43.) J. Vogel liest Sophokles` und Hofmannsthals ,Elektra' vor dem Hintergrund medizinischer und geistesgeschichtlicher Entdeckungen der Jahrhundertwende und zeigt Verbindungen auf zu Sigmund Freud und seinen Studien zur Hysterie als Krankheitsform und zu Erwin Rohdes ,Psyche'. Voraussetzungen und Transformation eines anderen Themas zeigt H.-G. Nesselrath: "Herakles als tragischer Held in und seit der Antike" (mit ausführlicher Behandlung der Heraklesdichtungen von F. Wedekind und H. Müller). U. Broich informiert über die Vermengung des griechischen (oder westlichen) Dramas mit kultischen und religiösen Gegebenheiten afrikanischer Staaten am Beispiel der Tragödienbearbeitungen ,The Gods Are not to Blame' von Ola Rotimi (1968), einer Adaptation des Ödipusstoffes, und ,The Bacchae of Euripides. A Communion Rite' des Nobelpreisträgers Wole Soyinka (1973) (beide Autoren stammen aus Nigeria und haben in Amerika und England studiert). Ein besonders interessantes Kapitel von Chr. Siegrist zeigt die Rezeption griechischer Tragödien in der ehemaligen DDR, zeichnet den Hintergrund für Inszenierungen, Nachdichtungen und Bearbeitungen, von Bert Brecht (Antigone) über Heiner Müller (Philoktet) zu Karl Mickel (Nausikaa), Stefan Schütz, Mathias Braun und Jochen Berg. Die Sicht des Theaterpraktikers G. Erken, "Regietheater und griechische Tragödie", beschließt den Band. Bedauerlich ist nur, daß dieser informative, anregende und (besonders durch die umfassend dokumentierte Literatur) weiterführende Band im vorgegebenen Rahmen nur sehr umrißhaft vorgestellt werden kann.

Herbert Bannert
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