EN| DE



SIMONE SAUER-KRETSCHMER (Bochum, doi: 10.1553/spk48s5 )

Vorwort

Wer über Postkarten nachdenkt, könnte Folgendes assoziieren: Ihre kurze und offene Form, Fotografien auf Postkarten, Kunstwerke im Miniaturformat, die Intimität von Handgeschriebenem, die Glanzzeit der Postkarte als Massenmedium um 1900 sowie zahlreiche Künstler, die mit Postkarten Kunst gemacht oder ihre Werke auf Karten reproduziert haben. Postkarten sind ein überaus vielseitiges Medium der ‚kleinen Form‘, das aus komparatistischer Sicht einen sehr ergiebigen Forschungsgegenstand darstellt, da es sich bei den meisten Karten schon per se um zweiseitige Text-Bild-Kompositionen handelt, die aber durch die Beschriftung des Senders, die Wahl der Briefmarke und die Adressierung des Empfängers freilich noch weitere Kommunikationsebenen hinzugewinnen. Postkarten kommunizieren ihren Inhalt durch Schrift und Bild und werden so zu einem multimedialen Gegenstand.
Das vorliegende Jahresheft von ›Sprachkunst‹ hat das Thema „Postkarten und Literatur“ und beschäftigt sich mit den Wechselbeziehungen, die sich ergeben, wenn Postkarten Eingang in den literarischen Text finden oder der Text gar erst durch Postkarten entsteht. Darüber hinaus soll die Postkarte auch als biografisches Schreibelement in den Blick genommen werden, denn dass – auch heute noch – viele Künstler eine Vorliebe für die einstigen ‚Correspondenzkarten‘ hegen, ist kaum verwunderlich, wohnt ihnen doch ein ganz eigener Charme inne.
Der erste Aufsatz ›Der Allegorien-Sammler. Peter Altenbergs Ansichtskarten zwischen Jahrhundertwende und Weltkrieg‹ beschäftigt sich mit dem bekannten Wiener Liebhaber und Sammler von Postkarten. Altenberg organisierte die von ihm ausgewählten Postkarten in thematisch angelegten Sammelalben, in denen sich aus den einsortierten Postkarten ein kunstvolles Ganzes ergibt. Die Postkartenalben Altenbergs befinden sich heute nicht an einem Ort, sondern sind in verschiedenen (öffentlichen und privaten) Sammlungen verwahrt, sodass der Zugang zu diesem ‚Bildwerk‘ des Schriftstellers nicht immer ganz einfach ist. Daher ist es eine besondere Freude, dass an dieser Stelle Auszüge aus Altenbergs ›Kriegsalbum 1915‹ gezeigt werden können. Darüber hinaus sind es verschiedene Ich-Ansichten Altenbergs, ihre emblematische Form sowie das Zusammenspiel seines literarischen Schaffens mit großer Sammelleidenschaft, die der Beitrag als Einblick in Altenbergs vielgestaltiges Schaffen präsentiert. Die Postkarte ist dabei von erheblicher Bedeutung für das literarische Schaffen Altenbergs und erscheint als poetisches Material schlechthin. Der zweite Aufsatz ›„Schreiben Sie mir keine Karte […].“ Rilke und die Postkarte‹: Ausgewählte Fundstücke‹ thematisiert Rainer Maria Rilkes Umgang mit Postkarten. Rilke schrieb zwar zu verschiedenen Anlässen Postkarten, doch sein Verhältnis zu dieser Form der sprachlichen Verknappung war widersprüchlich, da er dem Brief den Vorzug gab. In der vorliegenden Untersuchung stehen die unterschiedlichen Herangehensweisen der Mediennutzung Rilkes im Vordergrund, wobei die Postkarte als Kommunikationsmittel in ihrer Beziehung zu Sender und Empfänger untersucht wird. Nicht zuletzt ist dabei von Interesse, dass Rilke gelegentlich auch seine Gedichte auf Postkarten verschickte und künstlerisch gestaltete Postkarten als Inspirationsquelle für sein poetisches Werk nutzte. Auch dieser Aufsatz enthält zahlreiche Abbildungen, die eine Auswahl von Rilkes Postkarten präsentieren.

Während sich die beiden ersten Beiträge verstärkt auf das Zusammenspiel von Leben und Werk in Bezug auf den Umgang mit Postkarten konzentrieren, thematisieren die folgenden Aufsätze Postkarten als Gegenstand des literarischen Textes. Der dritte Beitrag ›Medien der Täuschung? Postkarten in Vladimir Nabokovs ‚Glory‘ und Alice Munros ‚Postcard‘‹ vergleicht zwei sehr unterschiedliche literarische Texte miteinander, in denen Postkarten eine Wirklichkeit herstellen, die es nicht (mehr) gibt. Hier geht es um solche Postkarten, die räumlich und zeitlich erhebliche Distanzen überwinden, um bei ihrem Eintreffen letztlich eine veränderte Erzählwelt vorzufinden, zu der ihre Botschaft nicht mehr passt. Die vierte Untersuchung mit dem Titel ›Bilder aus der Ferne. Zu Wilhelm Genazinos Poetik der Postkarte‹ beschäftigt sich mit Genazinos ›Aus der Ferne. Auf der Kippe‹. Das Buch ist eine Zusammenstellung zweier Arbeiten zu Postkarten, in der Genazino jeweils einseitige Texte Fotopostkarten in schwarz-weiß gegenüberstellt, bei denen es sich um Fundstücke handeln soll. Die ausgewählten Postkarten waren zuerst da, so Genazino, und anschließend folgten die Texte, die sich mit dem Bildinhalt der Karten beschäftigen. Dabei steht häufig das Alltägliche und Banale im Vordergrund von Genazinos Betrachtung. Ihm geht es nicht darum, sich den Postkarten auf eine aneignende, einnehmende oder erklärende Weise zu nähern, sondern darum, die Ferne zu beschreiben, die insbesondere fotografischen Postkarten stets innewohnt, da sie Relikte von etwas bereits Vergangenem sind. Postkarten spielen eine zentrale Rolle für die Poetik Genazinos, was der vorliegende Aufsatz deutlich zu machen vermag.

Die zwei folgenden Beiträge konzentrieren sich auf spezielle Formen literarischen Schreibens unter Verwendung von Postkarten. Der Aufsatz ›Post und Poesie: Gedichte auf Postkarten und Postkarten in Gedichten‹ diskutiert avantgardistische und neoavantgardistische Verwendungen der Postkarte im Gedicht oder als Gedicht von Paul Éluard, Edoardo Sanguineti, Ted Berrigan und Ron Winkler im Hinblick auf ihre poetologischen und medienreflexiven Implikationen. Denn die Beziehung von Postkarten und Lyrik geht weit über die Nutzung von Postkarten als ‚Trägermedium‘ für Gedichte hinaus, auch wenn sie sich dafür bestens zu eignen scheinen. Die dieses Heft beschließende Analyse trägt den Titel ›Wie Postkarten eine Existenz (v)erfassen. Ein medien-komparatistischer Blick auf Nick Bantocks ›Griffin&Sabine‹-Trilogie‹ und befragt die Postkartenbücher des kanadischen Autors auf ihre spezifische Medialität. Bantock lässt seine Protagonisten Griffin und Sabine durch kunstvoll von ihnen selbst gestaltete Postkarten miteinander kommunizieren und daraus eine Liebesgeschichte entstehen, die letztlich auch zu einer Reflexion über das Medium Buch und den kreativen Schaffensprozess des Autors wird.
Die Poetik der Postkarte zeichnet sich auch durch ihre Vielseitigkeit aus, dennoch lassen sich Themenbereiche festhalten, die dem Medium Postkarte eng verwandt sind und die für alle hier ausgewählten Aufsätze eine Rolle spielen: Postkarten werden zumeist handschriftlich beschrieben, sodass die Auseinandersetzung mit ihnen nicht selten schreibreflexive Züge trägt. Als Gruß aus der Ferne sind Postkarten an die Orte gebunden, von denen aus sie verschickt werden und überbrücken Distanzen, auch solche zwischen Autor und Leser. Sie werden gesammelt, archiviert und in Alben geordnet und geraten durch die Beigabe von Texten zum hybriden Kunstwerk oder zum Künstlerbuch. Ihre Form lädt dazu ein, Varianten auszuprobieren und auch die literarischen Karten neu zu mischen, sodass formale Experimente möglich erscheinen, ob im Roman, in der Kurzgeschichte oder der Lyrik. Denn mit dem Einzug von Postkarten kommt ein weiteres Medium in den Text, das einen eigenen Inhalt und eine konkrete Bildlichkeit mit einbringt, wodurch verschiedene Erzählebenen verbunden werden können. Postkarten erschaffen Bildwelten, deren Interpretation, Umwandlung und Ausgestaltung wiederum Textwelten entstehen lassen, in denen vieles möglich erscheint: So zeigen Postkarten ihr Sujet zwar im Kleinen, doch im Verbund mit der Literatur werden daraus Erzählwelten, welche die großen Themen und Fragen von Raum und Zeit, Vergangenem und Da-Sein, Nähe und Ferne nicht scheuen.